Bildungsministerin Schavan will 300 000 ausländische Fachkräfte mobilisieren. FDP blitzt bei Union mit Forderung nach Punktesystem ab

Hamburg. Im schwarz-gelben Berliner Regierungsbündnis verschärft sich der Streit darum, wie Deutschland mehr qualifizierte Arbeitskräfte gewinnen kann. Nach Vorstellungen von Bundesbildungsministerin Annette Schavan ist ein Mehr an Zuwanderung dazu nicht unbedingt nötig. Die CDU-Politikerin möchte stattdessen die Abschlüsse von bereits in Deutschland lebenden Zuwanderern leichter anerkennen. Auf bis zu 300 000 zusätzliche Fachkräfte könnten dann deutsche Arbeitgeber zurückgreifen, rechnete Schavan in der "Financial Times Deutschland" vor. "Wir wollen das Potenzial, das in unserem Land schlummert, aktivieren", sagte die Ministerin. Sie verspreche sich vor allem Fachkräfte in Natur- und Ingenieurswissenschaften, Pflegeberufen und der Medizin. Bis Jahresende solle dazu ein Gesetz verabschiedet werden.

Zustimmung kam von der HRK, der Vereinigung deutscher Hochschulen. HRK-Präsidentin Margret Wintermantel sagte dem Abendblatt: "Wenn Personen mit akademischem Abschluss aus dem außereuropäischen Ausland nach Deutschland kommen, müssen ihre Abschlüsse in einem transparenten Verfahren zügig bewertet werden. Die Verfahren müssen dringend verbessert werden."

Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) fordert dagegen neben einer besseren Integration auch einen stärkeren Zuzug von Fachkräften aus dem Ausland. "Für mich ist ganz klar, dass wir eine geordnete Zuwanderung brauchen", betonte der Minister. Nach seinen Angaben fehlen derzeit 36 000 Ingenieure und 66 000 IT-Fachkräfte. Allein im vergangenen Jahr habe dieser Mangel zu einem volkswirtschaftlichen Verlust von 15 Milliarden Euro geführt. Brüderle sprach sich dafür aus, ein Punkt-Bewertungssystem einzuführen, wie es auch in Kanada oder Australien in ähnlicher Form verwendet wird. Damit solle sowohl die berufliche Qualifikation der Einwanderer als auch ihre Deutschkenntnisse und andere Fähigkeiten bewertet werden.

Auch Grünen-Vorsitzender Cem Özdemir spricht sich für ein Punktesystem aus. Schon die rot-grüne Bundesregierung habe einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt, dafür aber keine Mehrheit bekommen, sagte er im ZDF.

In weiten Teilen der Union stößt die Forderung nach mehr Migranten dagegen auf Ablehnung. "Ich warne davor zu glauben, dass wir den Mangel an Fachkräften nur durch Zuwanderung lösen können", sagte die saarländische Arbeitsministerin Kramp-Karrenbauer (CDU) gestern in Saarbrücken. Statt einer Willkommenskultur für ausländische Fachkräfte werde zuerst ein Willkommen für diejenigen Arbeitskräfte gebraucht, die bisher auf dem Arbeitsmarkt chancenlos waren.

"Deutschland ist kein Zuwanderungsland und braucht deshalb auch kein Punktesystem", sagte auch CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt der "Rheinischen Post". Es sei "abenteuerlich", dass angesichts der Arbeitslosigkeit über zusätzliche Zuwanderung nachgedacht werde. Wer jetzt darüber philosophiere, verabschiede sich vom Ziel der Vollbeschäftigung.

Nach Ansicht des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) ist die Angst vor einem Fachkräftemangel allerdings berechtigt. "Wir haben in den Ingenieursberufen eine Arbeitslosigkeit von zweieinhalb bis drei Prozent und damit bereits fast Vollbeschäftigung", sagte VDI-Sprecher Marco Dadomo dem Abendblatt. "Aber in den nächsten zehn Jahren werden rund 500 000 Ingenieure in den Ruhestand gehen." Die Ausbildung komme der demografischen Entwicklung nicht mehr hinterher. Man müsse daher nicht nur für Ingenieursstudiengänge werben, sondern auch ausländische Ingenieursabschlüsse leichter anerkennen und auf ausländisches Know-how zurückgreifen.

Die Sorge um den Personalnachwuchs greift auch außerhalb der Ingenieursberufe um sich. Laut der Konjunkturbefragung der Hamburger Handelskammer im dritten Quartal 2010 nennen 50 Prozent der befragten Unternehmen den Fachkräftemangel als größte Sorge innerhalb der kommenden zwölf Monate.

Die Spitzen der Koalition wollen sich am 18. November erneut beraten. Daraus würden die zuständigen Fachminister dann ein Konzept entwickeln, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Angesichts fehlender Fachkräfte bleibe es richtig, sich auch auf die Suche nach Spezialisten im Ausland zu machen, zugleich müssten Potenziale in Deutschland genutzt werden.