Liedermacher singt zum Gedenken an den Mauerfall im Bundestag

Berlin. Wer Wolf Biermann, Dichter, Sänger und „Drachentöter“ des DDR-Regimes, zu sich einlädt, bekommt den Redner dazu. Das gilt seit Freitagmorgen 9.23 Uhr auch im Deutschen Bundestag. Kein gequältes Murren der Linken, kein ironisch angebotener Ordnungsruf des Bundestagspräsidenten konnte den Liedermacher bewegen, auf die Abmahnung des „elenden Rests“ der Diktatur auf den Bänken zu seiner Linken zu verzichten. „Ihr seid nicht links, ihr seid reaktionär“, belehrte Biermann, 77, die Fraktion um Gregor Gysi, und er gönne ihnen von Herzen, dass sie verurteilt seien, ihm zuzuhören. Aber eigentlich lohne es gar nicht mehr die Mühe: „Ich war ja Drachentöter ... ein Drachentöter kann nicht mit großer Gebärde die Reste der Drachenbrut tapfer niederschlagen.“

Nie gehörte Worte im deutschen Parlament. Und Wolf „Siegfried“ Biermann hatte noch lange nicht vor, den Mund zu halten und zu singen. Als Norbert Lammert ihm per Zwischenruf empfahl, entweder zu singen – dafür habe man ihn eingeladen – oder sich durch die Wahl in den Bundestag Rederecht zu erwerben, beschied ihn der Gast: „Das Reden habe ich mir in der DDR nicht abgewöhnt und werde das hier schon gar nicht tun.“ Womit er immerhin dem Präsidenten des Hohen Hauses ausgerechnet zur Gedenksitzung des Mauerfalls vor 25. Jahren klarmachte, dass man einem Biermann niemals den Mund verbietet. „Eins in die Fresse, mein Herzblatt“, sang der 1980. Austeilen gegen Ex-Geliebte und Ex-Genossen, die den einst gläubigen Kommunisten exkommuniziert hatten, konnte Biermann immer gut.

Die Linke muss geahnt haben, dass sie ihren Ankläger mit eingeladen hatte

Besinnlich sollte es zugehen. Ehemalige Bürgerrechtler würden in einem Video zu Wort kommen, die Reden von Lammert, Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU), eine von nur elf Abgeordneten, die den Mauerfall schon im Bonner Parlament erlebten, Iris Gleiche (SPD) und anderen würden die Würde des Hauses und der besonderen Feierstunde zu wahren wissen. Etwas Musik gefällig, hatte Lammert im Ältestenrat vorschlagen? Die Linke hatte sich übertölpeln und um eine Vetochance bringen lassen, als Lammert Biermann im Nachsatz auf die Agenda schmuggelte. Petra Sitte, die Parlamentarische Geschäftsführerin, hatte dazu geschwiegen und musste sich später von ihren Kollegen streng dafür tadeln lassen. Zu spät verlangte die Fraktion, Biermann dürfe seinen Auftritt nicht zur Parteikritik nutzen. Sie müssen geahnt haben, dass sie ihren Ankläger mit eingeladen hatten.

Er enttäuschte nicht. Es sind die alten Gesinnungsgenossen, die am härtesten mit der SED-Nachfolgepartei ins Gericht gehen. Und bei Wolf Biermann gilt immer vor allem das gesprochene, nicht das vornehm verschwiegene Wort. Also musste die Linke ihrem Verächter zuhören. Widerspruchslos, denn die Fraktion hatte zudem beschlossen, dem Dichter nicht noch mehr Ruhm durch verletzte Proteste zu gönnen. Man meinte, das Zähneknirschen auf der Pressetribüne zu hören. Wolf Biermann kostete das einseitige Duell aus. „Wir wollen ...“, hob einer an. Ach, ging er dazwischen: „Ihr wollt immer, aber ihr könnt nicht“, rief er. Die anderen Parlamentarier raunten frohlockend, endlich einer, der noch kann, was einst Franz Josef Strauß und Herbert Wehner konnten. Beleidigung und Herablassung hart am Ordnungsruf entlang.

Als ihn aus der Linken ein Maulen, sie seien schließlich vom Volk gewählt, erreichte, rief er: Quatsch, das sei ja wohl kein „Gottesurteil“ und sie sollten mal nicht zu clever sein. Fabelhaftes Demokratieverständnis. Kein Abgeordneter einer anderen Partei hätte gewagt, die Linke so genüsslich fertigzumachen wie der einzige Mann im Saal ohne Rederecht. Und wenige hätten sich das Recht einfach ohne Scham genommen. Wolf Biermann war immer zu schlau, zu begabt und zu eitel, um sich an die langweiligen Spielregeln für die Masse zu halten. Diesmal hatte er die Mehrheit der versammelten Volksvertretung auf seiner Seite. Und er genoss es huldvoll wie ein konstitutioneller Monarch. Es fehlte nicht viel, so schien es, und Biermann hätte sich daran erinnert, wie er damals die Mauer allein niedergerissen hat. Immer der Drachentöter. Stattdessen erfuhr das Plenum, dass der Dichter am 7. November 1989 seine Pamela geehelicht habe. Lammert gratulierte in gerührten Applaus hinein zur Silberhochzeit. Und für einen Moment war das deutsche Parlament Festgast beim Helden und Jubilar.

Norbert Lammert muss gewusst haben, dass seine Rede verblassen würde, wenn sein Ehrengast die Gitarre ergriffe. Dabei war seine Ansprache aller Ehren wert. Er feierte den „Glücksfall der Geschichte“ und wies ihm seinen Platz in der Erhebung ganz Osteuropas zu. Wären die Ostdeutschen allein geblieben mit ihrem Aufstand, sie hätten ihn womöglich nicht durchgehalten. Lammert gedachte der 136 Mauertoten, die letzten drei starben noch im Jahr 1989. „Jubel, Jubel, Jubel – Wahnsinn“, konziser ist die Stimmung am 9. November 1989 nicht zu beschreiben. Dass die Kanzlerin da einiges mit Sigmar Gabriel zu besprechen hatte und Gregor Gysi seelenruhig an seiner Rede arbeitete, ist normal im Parlament. Iris Gleiche erhielt freundlichen Stützungsapplaus, als ihr die Stimme vor Bewegtheit versagte. Eine nette Geste; ihr standen Tränen in den Augen, als sie sich an die Freudentränen der befreiten Ostdeutschen erinnerte. „Die Mauer steht gegen den Strom der Geschichte“, zitierte die Genossin Willy Brandt in Berlin 1964.