Während des Ersten Weltkriegs wetterten evangelische Geistliche gegen den Feind – und gaben deutschen Soldaten ihren Segen.

Kaum hatte das Deutsche Reich seine Streitkräfte mobil gemacht, wälzte sich eine Woge nationaler Kriegsbegeisterung durch die Städte. In jenen Augusttagen vor 100 Jahren, als der Erste Weltkrieg mit dem Einmarsch in Luxemburg und Belgien begann, stand das deutsche Volk nahezu geschlossen hinter dem preußisch-protestantischen Monarchen Wilhelm II. Dieser verkündete in seiner Kriegserklärung: „Vorwärts mit Gott, der mit uns sein wird, wie er mit den Vätern war.“

Während die Kunde der Mobilmachung wie ein „leuchtender Blitz das Dunkel erhellte“ („Berliner Tageblatt“, 2.8.1914) und „Ergriffenheit“ die Seelen der Menschen erfasste, sah auch der Hamburger Michel-Hauptpastor August Wilhelm Hunzinger seine Chance gekommen. Hatte er zuvor über die meist schlecht besuchten Gottesdienste und die schwindende Akzeptanz der Kirche im Bürgertum und bei den Arbeitern geklagt, so strömten jetzt die Hamburger in den Michel.

Sie drängten zum Heiligen Abendmahl, vielleicht ein letztes Mal vor dem Einsatz an der Front und dem Tod für Volk und Vaterland. Und sie wollten den Hauptpastor und Theologieprofessor Hunzinger predigen hören: seine Worte, die Mut für den Kriegseinsatz machten, aber nicht für den Frieden. „Wer Gott zum Trotz hat, der wird siegen“, ermutigte er die Gemeinde von der barocken Michel-Kanzel herab. „Germania, lass dich bitten, lass dich beschwören, niemals, was auch kommen mag, von diesem Trotz zu lassen.“

Hurra und Halleluja – der Erste Weltkrieg und die Kriegsbegeisterung der Kirchenleute wurden aus heutiger Perspektive zum Sündenfall für die evangelische Kirche. Denn sie stand Gewehr bei Fuß, als es darum ging, dem deutschen Kanonendonner ihren Segen zu geben. Die von neuzeitlichen Modernisierungsprozessen gebeutelte protestantische Kirche erlebte plötzlich ein religiöses Erwachen bei den Menschen, die trotz aller Kriegsbegeisterung letztlich um Leib und Leben fürchteten.

„Der Krieg hatte der christlichen Botschaft, gleichsam auf dem Rücken der nationalen Gesinnung, neue Geltung verschafft“, betont der Tübinger Historiker Dietrich Beyrau. Der Krieg, schreibt der Kirchenhistoriker Gerhard Besier in der Zeitschrift „Zeitzeichen“, „wurde von allen Seiten, wenn auch unterschiedlich intensiv, als eine Art Kreuzzug interpretiert – aus der Sicht Deutschlands für die christlich-deutsche Kultur und gegen den sittlich-moralischen Verfall des Westens“. Die evangelische Kirche habe sich mit der Kriegsbegeisterung in die damalige Grundstimmung eingereiht, sagt die Hamburger Pröpstin Ina Lübbers, die am vergangenen Wochenende den großen Gedenkgottesdienst in der Hauptkirche St. Trinitatis Altona leitete.

In jenen Augusttagen vor 100 Jahren entstand sogar eine neue Gattung evangelischer Verkündigung – die „Kriegspredigt“. Allein der nationalkonservative Hamburger Hauptpastor Hunzinger hat Dutzende von ihnen im Michel gehalten und später veröffentlicht. Stolz über die wiedererlangte religiöse Deutungsmacht schrieb er im Vorwort für sein erstes Buch „Kriegspredigten“: „Als der Krieg ausbrach, erlebten wir das Wunder der deutschen Völkerwanderung in die Kirche. In jenen denkwürdigen Tagen wurde, wie durch einen allerhöchsten Beschluss, das furchtbare Odium der Überflüssigkeit von der Kirche genommen.“ Die Stimme des Volkes habe der Kirche noch einmal den heiligsten Beruf anvertraut, den es gebe: „Die Größe der Zeit zu deuten und ihre Kräfte zu segnen.“

Hunzinger war kein Einzelkämpfer. Ob im Michel, im Berliner Dom, in Frankfurt am Main oder bei den Feldgottesdiensten – überall wetterten die evangelischen Geistlichen gegen den Feind und beschworen den Schutz des „deutschen Gottes“. Im Berlin wetzte der Hof- und Domprediger Bruno Doehring noch ein Jahr vor Kriegsende verbal die Klingen und forderte Opferbereitschaft. „Wohnt Christus in unserem Volk, dann mögen sie uns hinmorden wie die Juden einst unseren Herrn, aus unserm Grabe steht das neue Deutschland auf.“ Und der evangelische Lazarett-Pfarrer und spätere Erlanger Professor für Systematische Theologie, Paul Althaus, bekannte: „Nach meiner Überzeugung wird dieser Feldzug in der Kriegsethik für uns das Schulbeispiel eines gerechten Krieges sein.“

Zuvor frohlockte die Leitung der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union im August 1914, dass endlich Schluss sei mit der frivolen Leichtfertigkeit. Künftig, so hoffte sie, seien wieder Glaube, Abendmahl, Seelsorge und Gebet gefragt.

Bei den Soldaten an der Front sollte das „Kriegsvaterunser“ des Religionspädagogen Dietrich Vorwerk die Kämpfer auf Linie bringen.

„Eile, den Deutschen beizustehen,

Hilf uns im heiligen Kriege!

Laß deinen Namen sternengleich

Uns vorleuchten, dein deutsches

Reich

Führ zum herrlichsten Siege!“

Mit Empörung reagierte damals im schweizerischen Safenwil der reformierte Gemeindepfarrer Karl Barth, der später zum bedeutendsten evangelischen Theologen des 20. Jahrhunderts werden sollte, auf eine öffentliche Stellungnahme. Er hatte in der Zeitung vom Manifest der 93 deutschen Intellektuellen gelesen, die sich mit der Kriegspolitik von Kaiser Wilhelm II. identifizierten. Nicht nur Künstler, auch Repräsentanten von Religion und Wissenschaft hätten sich, klagte Barth, „in geistige 42-cm-Kanonen“ verwandelt.

„Unter denen, die es unterschrieben hatten, musste ich mit Entsetzen auch die Namen ungefähr aller meiner deutschen Lehrer (mit Ausnahme Martin Rades!) entdecken“, schrieb er später. Dazu zählte Adolf von Harnack genauso wie Reinhold Seeberg, der die These vertrat: Wenn man im Zuge der „Verteidigung des Vaterlandes“ einen belgischen Soldaten erschieße, sei dies ein Werk der Nächstenliebe Christi.

Solche nationalistisch verbrämten theologischen Vergleiche waren keine Ausnahme, sondern die Regel. „Es gab nur ganz wenige Theologen, die diese Parallelität – Jesu Opfertod, Opfertod des Soldaten – nicht mitmachten“, sagt der Bochumer Theologieprofessor Günter Brakelmann. „Das waren einfache Pfarrer, das war nicht die Creme der Kirche. Die Spitzen der Kirche bis 1918 und darüber hinaus sind bei ihrer Theologie ohne Reue und Buße geblieben.“

Wer ohne Wenn und Aber auf die biblische Friedensbotschaft setzte, blieb in der Minderheit. Es gab nur „sehr wenige“ kirchliche Stimmen gegen den Krieg, heißt es in einer unlängst veröffentlichten „Materialsammlung“ der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)zum Ersten Weltkrieg. Zu den friedensbewegten Theologen gehörte etwa Friedrich Siegmund-Schultze, der Mitbegründer des Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen. Er mahnte mitten im nationalen Kriegstaumel, als 1400 evangelische Feldgeistliche zum Fronteinsatz kamen und an den Schützengräben Bibeln und das Feldgesangbuch mit dem Titel „Hurra und Halleluja“ verteilt wurden: „Wenn Christus selbst gegenüber seinen Feinden den Krieg nicht leiden mag, wie viel mehr ist es widerchristlich, gegen Mitchristen Krieg zu führen.“

Aber die übergroße Mehrheit der Protestanten wollte in dieser Zeit nicht als „vaterlandslose Gesellen“ dastehen. Deshalb aktivierten die obersten Geistlichen das traditionelle Bündnis von Thron und Altar, stand doch die evangelische Kirche dem preußischen Staat und dem Kaiserreich näher als die katholische Kirche. Wie der katholische Theologe Martin Lätzel sagt, gebärdete sich allerdings auch die römisch-katholische Kirche in Deutschland nationalistisch. Trotz des Friedensappells von Papst Benedikt XV. 1915 („Es ist Bruderblut, das zu Lande und zu See vergossen wird“) hat sich der katholische Klerus offenbar nicht von der Überzeugung eines „Heiligen Krieges“ abbringen lassen. So marschierten Katholiken und Protestanten gemeinsam in den Tod – für Gott, Volk und Vaterland. Insgesamt kamen neun Millionen Soldaten ums Leben, darunter zwei Millionen Deutsche und 1,8 Millionen Russen. Die Zahl der zivilen Opfer wird auf sechs Millionen geschätzt. Der „deutsche Gott“ hat das Deutsche Reich jedenfalls nicht vor einer Niederlage bewahrt.

100 Jahre später gedenken die Kirchen der Urkatastrophe des Jahrhunderts. Und bekennen ihr Versagen. „Auch die Kirchen haben vor 100 Jahren Schuld auf sich geladen, sich vom Kriegstaumel mitreißen lassen, haben ihn sogar angefacht“, sagt der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider. Die evangelische Kirche habe sich einer moralischen Mitbeteiligung schuldig gemacht, sagt Propst Thomas Drope vom Kirchenkreis Hamburg-West/Südholstein. Inzwischen hat die Kirche daraus gelernt: Sie gibt sich pazifistisch und setzt sich für universale Nächstenliebe ein. Wozu auch die nächste Katastrophe des 20. Jahrhunderts beigetragen hat: der Zweite Weltkrieg.