Die Spitzenkandidatin der Grünen für die Europawahl spricht mit dem Hamburger Abendblatt über die Machtkämpfe in Kiew und die Rolle Russlands.

Hamburg. Rebecca Harms, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europäischen Parlament, ist mitten im Europa-Wahlkampf. Aber statt für Demokratie, den Euro oder Umweltfragen interessieren sich die Menschen vor allem für die Ereignisse in der Ukraine. Als Mitglied der Delegation für die Zusammenarbeit der EU und des osteuropäischen Landes verfolgt sie die Geschehnisse und hat sich mehrfach ein Bild der Lage vor Ort gemacht.

Hamburger Abendblatt: Frau Harms, haben Sie den Eindruck, dass Russlands Präsident Wladimir Putin die Separatisten in der Ostukraine noch unter Kontrolle hat?
Rebecca Harms: Die Frage ist, ob Präsident Putin das Interesse hat, dort für geordnete Verhältnisse zu sorgen. Die erste gute Nachricht ist, dass die Manöver entlang der russisch-ukrainischen Grenze eingestellt werden sollen. Wenn die russischen Soldaten jetzt in die Kasernen zurückkehren, können die Separatisten nicht mehr glauben, direkt von russischen Kräften gedeckt zu werden. Dieser Aufmarsch der Armee entlang der Grenze war eine Kulisse zur Ermutigung der Separatisten.

Hat man tatsächlich mit einem Einmarsch gerechnet?
Harms: Einige Sprecher der Separatisten haben das immer wieder gesagt. Aber die Sache ist schwer voraussagbar. Vor den Ereignissen auf der Krim hätte ich auch nicht damit gerechnet, dass innerhalb so weniger Tage die Halbinsel besetzt und annektiert werden würde.

Hat also im Westen niemand ahnen können, dass Putin allergisch reagiert, wenn sich die Lage in Kiew durch den Sturz des ihm genehmen Präsidenten Janukowitsch dramatisch verändert und das Assoziierungsabkommen mit der EU so wieder auf den Tisch kommt?
Harms: Das Assoziierungsabkommen ist seit 2008 verhandelt worden. Auch bei wechselnden Regierungen und Präsidenten in Kiew hat sich daran nichts geändert. In Deutschland wird meines Erachtens ein Fehler gemacht: Es wird immer behauptet, die EU habe da etwas falsch eingeschätzt, so als ob die deutsche Außenpolitik und die deutsche Regierung mit diesen Verhandlungen nichts zu tun gehabt hätten. Vonseiten aller Staats- und Regierungschefs der EU hat es keine Zweifel daran gegeben, dass dieser Prozess richtig ist und zum Erfolg führen wird. Die Störungen haben im vergangenen Sommer begonnen, als Präsident Putin den Handelskrieg gegen einige osteuropäische Länder eröffnet hat. Und Viktor Janukowitsch hat dann mit Putin entschieden, das Assoziierungsabkommen nicht zu unterschreiben.

Aber es gab doch immer deutliche Signale Putins an den Westen: Rückt mir nicht zu nahe!
Harms: Aber das Assoziierungsabkommen führt nicht automatisch zur EU- oder Nato-Mitgliedschaft der Ukraine. Wir haben früher oft über den Wunsch der EU-Mitglieder im Osten gestritten, sich von der Nato schützen zu lassen. Ich war da sehr kritisch. Aus heutiger Sicht kann ich die baltischen Länder verstehen.

Verstehen Sie auch Putin?
Harms: Ich kann inzwischen nachvollziehen, wie Putin seine Politik begründet. Aber ich habe kein Verständnis dafür, dass Russland in Europa Grenzen verschiebt mit einer ethnischen Begründung. Dieses Europa, dachte ich, hätten wir hinter uns.

Glauben Sie an die Wirkung von Sanktionen, die jetzt von den USA und der EU gegen Russland verhängt werden?
Harms: Es ist richtig, dass die Europäer in diesem Konflikt keine militärische Lösung wollen. Dieser Konflikt muss mit den Mitteln der Diplomatie gelöst werden. Und ich bin froh, dass die Europäer zu einer gemeinsamen außenpolitischen Linie gefunden und sich schnell auf diese Maßnahmen geeinigt haben. Die gezielten Sanktionen gegen Einzelne und die in Stufen steuerbaren Wirtschaftssanktionen sehe ich als einzige, aber notwendige Alternative zu einem militärischen Vorgehen. Auch für die russische Führung ist es nicht unbedeutend, wie das Land ökonomisch in der Welt dasteht. Das Land würde weiter geschwächt, wenn Putin es in die internationale Isolation führt.

Trauen Sie der Übergangsregierung in Kiew zu, die Lage unter Kontrolle zu bringen?
Harms: Ich habe schon vor der aktuellen Krise kritisiert, dass die ukrainischen Parteien keine Programme haben, an denen sich Wähler orientieren könnten. Sie kämpfen immer um die Macht. Ein demokratisches System ist noch nicht stabil gewachsen. Vitali Klitschko ist zum Beispiel ein wirklich guter Mann, weil er seine Wurzeln nicht in diesem Oligarchensystem hat und weil er sehr viel Mut bewiesen hat. Aber er ist politisch ein Newcomer, und auch er hat seine Partei und sein Programm noch nicht richtig aufgebaut. Das ist etwas, woran die Ukrainer mit unserer Unterstützung arbeiten müssen. Diese ewigen reinen Machtkämpfe sind auch das, wogegen sich die Euromaidan-Bewegung gewandt hat. Diese jungen Leute aus der ganzen Ukraine kennen die EU, kennen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Sie wissen, wie ihr Land verändert werden muss. Sie sollten die Chance bekommen, es zu tun.

In der Argumentation der Separatisten und Moskaus spielen die rechten Kräfte in Kiew die Hauptrolle. Wie stark sind die ihrer Ansicht nach wirklich?
Harms: Die Swoboda-Partei zum Beispiel ist heute schwächer als bei der vergangenen Parlamentswahl. Damals bekam sie zehn Prozent der Stimmen. Heute stehen sie in Umfragen bei fünf. Die Militanten des Rechten Sektors sind erst wichtiger geworden, als die Situation auf dem Maidan eskalierte und sie Schutz boten. Seit sie eine Partei gegründet haben, geht es mit ihnen bergab. Sie liegen in den Umfragen unter einem Prozent. Das ist auch nicht eine reine politische Bewegung. Kenner beschreiben sie in Teilen als Organisation zur Schutzgelderpressung mit mafiaähnlichen Strukturen. Diese Gruppen müssen entwaffnet werden. Das ist für Rechtsstaatlichkeit wichtig. Die Übergangsregierung hat damit angefangen. Auf keinen Fall wird es funktionieren, den Konflikt mit den Separatisten militärisch zu lösen. Auch hier muss die politische Auseinandersetzung gesucht werden.

Kann am 25. Mai eine von allen Seiten akzeptierte Wahl stattfinden?
Harms: Es ist das Wichtigste, das zu erreichen – auch für die EU. Auch Putin muss akzeptieren, dass diese Wahlen frei und fair stattfinden müssen. Kandidaten aus allen Teilen des Landes nehmen teil, auch von Janukowitschs Partei der Regionen aus dem Osten. Bei den Wahlen geht es um die Zukunft des Landes. Die notwendigen Reformen kann man nicht den Separatisten überlassen.

Welche Perspektive sehen Sie denn für die Ukraine? Geht das nur mit Russland?
Harms: Will Russland, dass das Oligarchensystem in der Ukraine durch ein demokratisches System ersetzt wird? Diese Forderung steht im Zentrum der ukrainischen Bürgerbewegung. Die Menschen haben es einfach satt, dass die Oberschicht des Landes mit allen Vorteilen quasi im Westen leben kann und sie selber den Unberechenbarkeiten eines korrupten Staates ausgesetzt sind. Sie wollen selbst entscheiden, welchen Weg die Ukraine gehen soll. Das ist die Veränderung, die Putin nicht akzeptieren kann, denn sein Russland hat auch ein extremes Oligarchensystem. Ein wirklicher Wandel in der Ukraine bedroht auch seine Macht in Moskau.

Sind viele Menschen europamüde?
Harms: Ich habe den Eindruck, dass gerade durch die Ereignisse in der Ukraine vielen wieder mehr ins Bewusstsein kommt, was Europa bedeutet, wie gut diese ursprüngliche Idee ist: Wir nehmen unsere Interessen gemeinsam wahr, jenseits der Idee, dass eine Nation besser als die andere sei. Und eben daraus entsteht Stabilität und Frieden.