Die deutschen Bischöfe haben den Münchner Kardinal Reinhard Marx zu ihrem neuen Vorsitzenden gewählt. Auch mit Blick auf Rom

Münster. Als der große Moment gekommen ist, weht der Frühlingswind eine kleine Verdi-Melodie über den Innenhof. Ein Glockenspiel in der Fassade eines der benachbarten Altstadthäuser spielt zur vollen Stunde den „Gefangenenchor“. Elf Uhr am Vormittag. Es soll der neue starke Mann der katholischen Kirche in Deutschland vorgestellt werden. Die kleine Melodie stammt aus der Bibel-Oper „Nabucco“. In dem Stück trauern die Israeliten alten, besseren Zeiten im Gelobten Land nach. Sie sind in der Bedeutungslosigkeit verschwunden und hoffen auf einen starken Mann, der ihnen den alten Glanz zurückbringen kann. Die schwere Holztür des Münsteraner Priesterseminars öffnet sich vor den wartenden Kameras, und heraus tritt Reinhard Marx.

Sie haben sich also für die große Lösung entschieden. Die deutschen Bischöfe haben den Münchner Kardinal zu ihrem neuen Vorsitzenden gewählt. Und damit denjenigen, der vor lauter Macht und vor lauter Ämtern eigentlich schon vorher kaum noch laufen konnte. Offenbar wollen die Oberhirten nach Jahren der Krisen und des kleinlauten Umgangs mit Rom nun wieder international mitspielen. Und haben daher nicht, wie vor sechs Jahren bei der Wahl von Robert Zollitsch, einen eher schwachen Kandidaten gewählt, der ihnen möglichst wenig in die Quere kommen sollte, sondern einen starken. Den stärksten, den sie haben.

Missbrauchsskandal, Weltbild-Pleite, Limburg: Das war gestern. Heute scheint wieder die Sonne. Der frisch gewählte Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) hat die Hände vor dem mächtigen Bauch übereinandergelegt und nicht gefaltet, er ist ja hier nicht in der Kirche, und doch hat der Augenblick etwas von Krönungsmesse. „Heute Morgen haben wir gemeinsam gebetet, dass uns bei der Wahl das Richtige einfällt“, sagt Marx. Es ist klar, dass diese Gebete aus seiner Sicht erhört wurden. Chef der schwerreichen Münchner Erzdiözese, europäischer Strippenzieher, Konklave-Teilnehmer, Wirtschaftsexperte der römischen Kurie, Papstberater – Marx ist in den vergangenen Jahren außer Papst so ziemlich alles geworden, was man in der katholischen Kirche werden kann. Zu viel, um auch noch den DBK-Vorsitz übernehmen zu können. So sahen es im Vorfeld der Frühlingsvollversammlung jedenfalls die meisten Beobachter und hinter den Kulissen auch mancher Bischofskollege. Aber der Kardinal hat sich eine Lösung überlegt. „Ich will kein Jäger und Sammler von Posten sein“, sagt er nun. „Man kann ja auch wieder was abgeben. Darüber will ich mir in den nächsten Tagen in Ruhe Gedanken machen.“ Es ist ein elegantes Manöver. Marx ist berühmt für seine strategische Kreativität. Und berüchtigt.

Der Westfale Marx, der 1953 als Sohn eines Schlossers zur Welt kam, studierte Theologie und Philosophie in Paderborn, Münster, Bochum und Paris. Aus der Paderborner Zeit stammen seine engen Kontakte zu den damaligen Kommilitonen und heutigen (Erz-)Bischöfen von Osnabrück, Münster und Paderborn. Nach einem Ausflug in die Wissenschaft und der Erhebung zum Weihbischof stieg Marx 2002 zum Bischof von Trier auf – und wurde in dieser Stellung rasch ein Liebling der Medien: jung, von entwaffnender Eloquenz, einer, der beim Glas Moselwein ins Erzählen kommt und bei aller scheinbaren Gemütlichkeit klare, konservative Überzeugungen vertritt. Marx profilierte sich als Sozialethiker. Er schrieb ein Buch über christliches Wirtschaften und nannte es „Das Kapital“.

Hin und wieder gab es Aufregung, etwa als Marx einen Priester suspendierte, der gemeinsam mit Protestanten das Abendmahl gefeiert hatte. Aber Rom war zufrieden. Ende 2007 wurde Marx erneut befördert: Papst Benedikt XVI. wies ihm den Erzstuhl von München und Freising zu – und damit einen Posten, den Ratzinger selbst einst innehatte. Marx war angekommen in der Champions League.

Aber in München bekam sein Image allmählich Kratzer. Priester aus seinem Bistum berichteten von autoritärem Führungsstil. Gläubige staunten über die barocke Prachtentfaltung, mit der der neue Oberhirte in München hofhielt. Das böse Wort vom Fürstbischof machte die Runde. Bischofskollegen murrten über Marx’ Medienpräsenz. Doch Reinhard Marx kam immer wieder in die Offensive und witterte jede Gelegenheit, sich positiv in Szene zu setzen. 2010, mitten im Missbrauchsskandal, erklärte er sich überraschend zum Vorreiter in Sachen Transparenz. Dass eine kriminologische Aufarbeitung später auch daran scheiterte, dass Marx die Münchner Archive nicht öffnen wollte, ging dagegen unter.

Im vergangenen Herbst schließlich war er einer der Ersten, die sich vom Limburger Bischof Tebartz-van Elst distanzierten. Der Zigarrenliebhaber Marx kennt sich dabei selbst mit eleganten Bauvorhaben aus. Er bewohnt drei Zimmer im frisch renovierten „Palais Holnstein“, dem alten Amtssitz der Münchner Erzbischöfe. Kronleuchter, Deckenfresko über dem Treppenhaus, Keramik-Kachelöfen, Gemälde an der Wand – darunter auch eines, das Marx selbst zeigt. Die Kirche zahlte für die Herrichtung des Rokokoschlösschens 1,5 Millionen Euro; Bayern, dem das Palais gehört, stellte 6,5 Millionen bereit. Als Marx seinen neuen Sitz bezog, wurde bekannt, dass das Erzbistum München in Rom eine Villa für 9,7 Millionen Euro gekauft hat. Sie soll als Gästehaus dienen. Marx’ Auftreten scheint auf den ersten Blick nicht zu dem neuen Stil der Armut und Bescheidenheit zu passen, den Papst Franziskus im Vatikan eingeführt hat. Aber ausgerechnet der Pontifex aus Argentinien hat den Münchner Kardinal in den vergangenen zwölf Monaten besonders kräftig gefördert. Franziskus berief Marx in das exklusive Gremium der acht Kardinäle, die den Papst bei der Reform der römischen Kurie beraten. Und erst vor wenigen Tagen machte ihn Franziskus zum Koordinator des neuen vatikanischen Wirtschaftsrats, der künftig für alle wirtschaftlichen und administrativen Belange des Heiligen Stuhls zuständig sein soll. Außerdem steht Marx dem Rat der Europäischen Bischofskonferenzen vor. Nun ist Marx zu einer Art europäischem Superbischof geworden.