Im Abendblatt-Gespräch kritisiert Pater Anselm Grün die Debatte um prominente Steuerhinterzieher als „unbarmherzig“

Hamburg. Pater Anselm Grün, 69, kommt in Outdoor-Jacke zum Interview, über der schwarzen Mönchskutte. Es ist kalt und windig am Sonntagabend in Hamburg, wo er im Schlussgottesdienst der diesjährigen Ansgarwoche im Michel gepredigt hat. Seine spirituellen Bücher haben den Benediktinermönch aus der bayerischen Klosterabtei Münsterschwarzach zu einem der meistgelesenen Autoren gemacht. Was viele nicht wissen: Er ist auch Betriebswirt und war bis Ende 2013 für die wirtschaftlichen Belange der Abtei mit 300 Mitarbeitern zuständig. Das Abendblatt sprach mit ihm über Steuerstraftaten, Habgier und den Sinn des Lebens.

Hamburger Abendblatt:

Wenn jemand gegen Gesetze verstößt, ist er ein Straftäter. Wer Steuern hinterzieht, ist ein Steuersünder. Können die eher auf Absolution hoffen, wenn sie beichten?

Pater Anselm Grün:

Jeder kann auf Absolution hoffen. Aber bei Fragen der Steuerhinterziehung ist natürlich der Staat zuständig. Bei der aktuellen Diskussion ist mir ein anderer Aspekt wichtig. Wir haben eine Empörungskultur, die nicht gut ist. Sobald jemand einen Fehler gemacht hat, stürzt sich die ganze Nation darauf. Ich finde, dass ist unbarmherzig.

Aber offenbar sehen einige Menschen Steuerhinterziehung als Kavaliersdelikt an. Sagt das etwas über die Definition des Einzelnen zum Staat aus?

Pater Anselm:

Die Frage ist, wie komme ich zu einer Steuergerechtigkeit. Es gab in den vergangenen Jahren ein Umdenken in der Gesellschaft. Die Sensibilität ist größer geworden. Früher haben es manche gar nicht als Delikt empfunden, wenn sie Steuern hinterzogen haben. Das sieht man auch an den zahlreichen Korruptions- und Parteispendenaffären vergangener Jahre. Niemand kann sich das mehr leisten. Und das ist gut so. Aber man sollte sich davor hüten, die Einzelnen zu kriminalisieren.

Wasser predigen und Wein trinken, taugt unsere Elite nicht mehr als Vorbild?

Pater Anselm:

Die Gefahr in unserer Gesellschaft ist, dass wir Menschen in den Himmel heben, und sobald sie Fehler machen, in die Hölle schicken. Wir sollten uns davor hüten. Jeder Mensch, auch die Elite, hat Fehler und Schwächen. Aber natürlich ist es wichtig, dass ich den Mund nicht zu voll nehme. Wenn ich selber ein Moralapostel bin und Fehler mache, ist es peinlich. Mehr Bescheidenheit wäre besser. Das gilt auch für die Kirche und ihre Elite.

Haben die Enthüllungen Folgen für das Gerechtigkeitsempfinden im Land?

Pater Anselm:

Es gibt eine größere Sensibilisierung. Auf der anderen Seite werden wir immer mehr zu einer Sündenbockgesellschaft. Wenn jemand einen Fehler macht, laden wir dem alles auf. Und meinen, wir sind rein und die anderen sind böse. Ich sehe es eher so: Der Fehler des anderen ist ein Spiegel, in den wir selbst schauen sollten.

Aber es geht ja hier um Gesetzesverstöße. Das sind Straftaten.

Pater Anselm:

Natürlich, aber wenn jeder das eigene Gewissen erforscht, muss er sich fragen, ob er immer gerecht lebt. Die sich so entrüsten, sind oft die Gleichen, die versuchen, etwas zu sparen – auch wenn das im kleinen Bereich ist. Wir müssen uns vor einer Sündenbockgesellschaft hüten. Sonst übernehmen immer weniger Menschen Verantwortung, weil sie Angst haben, an den Pranger gestellt zu werden.

Es geht dann ja auch schnell um Gier und Habgier, immerhin eine der Todsünden. Gibt es eine Tendenz in der Gesellschaft, nicht genug zu bekommen?

Pater Anselm:

Jeder kennt die Gier, und die Frage, wie man damit umgehen soll. Die Sehnsucht nach Geld und Besitz ist ja auch die Sehnsucht nach Ruhe. Aber das Paradoxe ist, wenn ich viel habe, werde ich nicht ruhiger, sondern unruhiger. Gier macht blind. Ich bin nicht mehr frei, sondern will mehr und mehr.

Zugleich ist Habgier natürlich auch ein Motor der Wirtschaft. Wie sehen Sie das als Theologe und Betriebswirt?

Pater Anselm:

Für mich ist wichtig, dass bei jedem Geschäft beide etwas gewinnen müssen. Wenn ich den anderen über den Tisch ziehe, dann geht es mir auch nicht gut dabei. Für mich ist wichtig, dass Geld den Menschen dient. Reichtum an sich ist nichts Schlechtes. Aber die Gefahr ist, damit die eigene Leere füllen zu wollen. Und dann ist es ein Fass ohne Boden. Wer gierig ist und ängstlich, der verliert.

Woran liegt es, dass ja offenbar bei vielen Menschen die Maßstäbe verrückt sind?

Pater Anselm:

Es gibt mehr Menschen, die innerlich leer sind. Gier ist immer mit Mangel verbunden. Dass man nicht Ja sagen kann zu sich und seiner Begrenzung, sondern meint, durch Äußerlichkeiten sein Selbstwertgefühl steigern zu können. Ich kenne Menschen, die sehr reich sind, aber immer das Gefühl haben, keiner mag sie oder nur wegen des Geldes.

Wie findet man zurück zu gerechten – und machbaren – Maßstäben?

Pater Anselm:

Das ist die Frage nach dem Sinn des Lebens. Besitz hat auch etwas mit Teilen zu tun, solidarisch zu sein mit anderen. Ich würde nicht moralisierend sagen, du darfst nicht. Jeder sollte sich fragen, warum er so viel Geld und Besitz braucht.