Bürgermeister Olaf Scholz gilt als geschicktester Stratege unter den Sozialdemokraten. Für seine Partei sondiert er nun mit der Union

Hamburg. Er ist der pragmatische Stratege unter den Sozialdemokraten, gilt als zielstrebig und einflussreich. Olaf Scholz ist ein selbstbewusster, gelegentlich zur Arroganz neigender Strippenzieher, der seine Partei eher nach innen prägt, als sie öffentlich in Talkshows zu vertreten. In den Sondierungsgesprächen mit der Union sitzt der Hamburger Bürgermeister und Bundesvize für die SPD am Tisch. Dabei setzen Beobachter auf Scholz’ Verhandlungsgeschick. Er hat die Interessen der Länder und der Partei im Blick. Er besitzt die Erfahrung und genießt hohes Ansehen, resultierend aus seinen früheren Posten in Berlin und seiner unangefochtenen Regentschaft in Hamburg. Er könnte die Verhärtungen zwischen den Volksparteien aufbrechen. Der 55-Jährige ist kein Politiker, der auf den Tisch haut und knallhart pokert. „Stattdessen ist er ruhig, die lange Linie suchend. Er guckt nicht auf den kurzfristigen Erfolg, sondern geht die Probleme und ihre Lösung langfristig an“, sagt sein Parteifreund und der Sprecher des Seeheimer Kreises, Johannes Kahrs. Doch soll Scholz schnell ungeduldig werden, wenn man ihm nicht folgen kann – sei es inhaltlich oder intellektuell, wie andere sagen. Dann weiß er zu attackieren. Auch heißt es parteiintern schon mal: „Mit ihm zu arbeiten ist, wie in Nordkorea Urlaub zu machen.“

Kahrs zufolge, kein ausgewiesener Scholz-Freund, geht der Bürgermeister „sehr entspannt“ in solche Koalitionsverhandlungen, „denn er hat sie schon zweimal mitgemacht“. Scholz wolle selber nichts werden. Die stellvertretende Parteichefin Aydan Özoguz bezeichnet Scholz als „wichtigen Kopf“, der mit Sachlichkeit überzeuge. Neben Parteichef Sigmar Gabriel und der nordrhein-westfälischen Ministerpräsidentin Hannelore Kraft gilt der stets bestens informierte Scholz derzeit als der einflussreichste Sozialdemokrat. Aus seinem Umfeld heißt es, dass er seit der Bundestagswahl parteiintern noch wichtiger geworden ist.

Der ausgebildete Jurist engagierte sich früh politisch, trat 1975 in die SPD ein. Den Hamburgern wurde er ein Begriff, als er 2001 Innensenator wurde. Doch der leidenschaftliche Jogger erhielt kaum Gelegenheit zum Glänzen, weil die SPD die Wahl verlor und sich fortan gegen Ole von Beust (CDU) positionieren musste. Während die Genossen ihre Wunden leckten, machte Scholz Karriere in Berlin. Zwar blieb er bis 2004 Landeschef, doch beförderte ihn der damalige Bundeschef Franz Müntefering 2002 zum Generalsekretär und 2005 zum parlamentarischen Geschäftsführer. 2007 wurde Scholz Arbeitsminister in der Großen Koalition und feilte an seinem Profil. Auch pflegte er bereits während der Koalitionsverhandlungen 2005 ein enges Verhältnis zum damaligen CDU-Generalsekretär und späteren Unionsfraktionschef Volker Kauder. Beide duzen sich seither. Es heißt, Scholz schätze Kauder als kooperationsfähigen Politiker.

Nach dem Ende von Schwarz-Rot in Berlin kehrte Scholz 2009 als Landeschef nach Hamburg zurück. Dabei gelang ihm etwas, was seinen Vorgängern ein Jahrzehnt verwehrt blieb: Er einte zumindest nach außen den stolzen Landesverband und holte bei der Bürgerschaftswahl 2011 mit rund 48 Prozent die absolute Mehrheit. Seitdem regiert er, einst als „Scholzomat“ verspottet, uneingeschränkt. Und wer sich in der SPD-Bundestagsfraktion umhört, stößt vor allem auf Respekt für diese Leistung, lange nach der Wahl noch eine große Zustimmung bei den Hamburgern zu genießen. Einmal hoch siegen, das könne man schaffen. Aber die Euphorie des Sieges über Jahre an der Regierung zu halten sei wesentlich schwieriger.

Dass Scholz ein – auch von sich selbst überzeugter – gewiefter Verhandler ist, stellte er in Hamburg bei der Einigung mit Hochtief im Streit um die Elbphilharmonie unter Beweis. Überzeugend erweckte Scholz den Eindruck, dass die Stadt das finanziell aus den Fugen geratene Mammutprojekt alleine zu Ende bauen würde. Fakt ist aber auch, dass er diese Einigung nicht zum Nulltarif bekommen hat. Ohnehin ist seine Bilanz nicht so makellos, wie es auf den ersten Blick scheint: Die Elbvertiefung liegt immer noch auf Eis, mit dem Volksentscheid zum Rückkauf der Netze hat der Bürgermeister einen ersten wirklichen Rückschlag erlitten. Zwar heißt es, dass Scholz gelernt habe, seine Souveränität nicht in Arroganz abgleiten zu lassen. Doch wirkt er immer noch hin und wieder wie ein abgehobener Machtpolitiker.

„Er ist sehr einflussreich“, sagt Kahrs. So taucht sein Name nicht selten im Zusammenhang mit dem nächsten Kanzlerkandidaten der Sozialdemokraten 2017 auf. Zeitlich würde es perfekt für Scholz laufen. Der Hanseat hat stets betont, 2015 erneut als Bürgermeisterkandidat in Hamburg anzutreten. Im Fall seiner Wiederwahl könnte er dann noch zwei Jahre in seiner Stadt wirken und schließlich dem Ruf seiner Partei nach Berlin folgen. Manche dort sehen ihn weniger stark verwoben mit Hamburg als seine mögliche Konkurrentin Hannelore Kraft in Nordrhein-Westfalen. Scholz kennt das politische Geschäft in Berlin besser als Kraft. Und doch könnte sie am Ende geeigneter für einen Neustart an der Spitze der SPD sein. Denn vor allem bei jüngeren Wählern und Frauen schnitt die SPD bei der Wahl vor zwei Wochen schlecht ab. Die Partei der alten Männer, mit diesem Bild kämpft die SPD. Kraft wirke noch frischer als Scholz, heißt es. Und – sie ist eine Frau. Doch Scholz ist klug genug, sich auf jene Gedankenspiele nicht einzulassen, noch nicht. Noch sieht er seine Zukunft in Hamburg. Er fühlt sich tief verwurzelt in der Stadt. Zudem weiß der Realist, dass früh gehandelte Namen in Sachen Kanzlerkandidatur so schnell verschwinden, wie sie ausgesprochen sind. Doch er weiß auch, dass zur Freiheit gehört, dass nicht immer alles planbar ist. Er will immer das, was er gerade macht, gut machen – „ein sehr handwerklicher Ansatz“, wie er es mal beschrieb. So ist das Thema Kanzlerkandidatur 2017 aktuell kein Thema in der SPD, wie Genossen sagen, und wird 2016 entschieden.

Mit seinem Einmischen in die Bundespolitik geht Scholz nun aber auch das Risiko ein, dass sein souveränes Image Kratzer bekommt. Die Verhandlungen mit der Union könnten schmutzig werden. Entgegen allen Behauptungen ist der Konkurrenzdruck zwischen den Parteien groß, das erhöht die Bissigkeit im Bund. Zudem bläst den SPD-Spitzenpolitikern der Gegenwind der Parteibasis entgegen, die Schwarz-Rot überwiegend ablehnt. Als Union und SPD 2005 über ein Bündnis verhandelten, waren die Sozialdemokraten gleichauf mit der CDU/CSU. Diesmal wäre die SPD der klare Juniorpartner in einer Großen Koalition. Und was mit Merkels kleinen Partnern passiert, konnte die SPD jüngst bei der FDP beobachten. Scholz hingegen ist davon überzeugt, dass die SPD bei der Bundestagswahl 2009 nicht aufgrund ihrer Regierungsbeteiligung scheiterte, sondern an sich selbst. Außerhalb der Regierung boten die Sozialdemokraten ein desolates Bild: In Hessen hatte Andrea Ypsilanti trotz gegenteiliger Versprechen im Wahlkampf eine Tolerierung mit den Linken angestrebt und war kläglich gescheitert. Damit es 2017 wieder in Richtung einer sozialdemokratischen Kanzlerschaft gehen könnte, müsste demzufolge vor allem die Außenwirkung der gesamten Partei stimmen.

Doch viele Genossen fürchten, unter das Joch der beliebten Kanzlerin Merkel zu geraten. Für die Basis der Sozialdemokraten wäre dann auch Scholz diesen Kurs mitgegangen. Scheitern die Verhandlungen mit der Union, scheitert auch der Stratege Scholz. Denn anders als Hannelore Kraft ist er einer Großen Koalition durchaus zugeneigt. Misslingt also das Unterfangen, stärkt das eben jene Kraft. Landet die SPD in der Opposition, kann sie mit dem starken Land Nordrhein-Westfalen im Rücken über den Bundesrat Druck auf eine mögliche schwarz-grüne Regierung ausüben. In einer Opposition könnte man sich profilieren, ein sozialdemokratisches Gegengewicht bilden und 2017 gestärkt in den Wahlkampf gehen. Die SPD-Spitze hat schon reagiert: Gabriel möchte die Basis dazu befragen, ob die Partei ein Bündnis mit der Union eingehen soll. Er holt sich damit die Rückendeckung für die Verhandlungen und sichert sich selbst ab. Die große Leistung des Parteichefs besteht nun darin, ein Zerreißen der SPD entlang der Koalitionsverhandlungen mit CDU/CSU zu verhindern.

Es wird bei den Verhandlungen zwischen Union und SPD um Streitthemen wie Steuern, Mindestlohn oder Energiewende gehen. Man müsse die Chancen ausloten, eigene Inhalte durchzusetzen. „Das ist ein Teamspiel, in dem jeder seine Rolle hat“, sagt der Bundestagsabgeordnete Kahrs. So müsse Gabriel darauf achten, dass die Partei aufgrund der Mitgliederbefragung mitgenommen werde. Dem generalistischen Landesfürsten Scholz gehe es darum, dass die Interessen der Länder wahrgenommen würden. So habe er in Hamburg etwa die Mietpreisbremse nach vorn gebracht. „Auch wird ihm das Thema Doppelte Staatsbürgerschaft am Herzen liegen, und natürlich die Infrastruktur, wenn man sich Hamburg und die Probleme von Elbvertiefung und Nord-Ostsee-Kanal ansieht“, sagt Kahrs. Laut Hamburgs SPD-Fraktionschef Andreas Dressel kann sich die Stadt „glücklich schätzen, dass unser Bürgermeister bei den Sondierungen mit am Tisch sitzt“. Weil er Hamburg im Blick habe, könne der gesamte Norden davon profitieren.

Der hanseatische CDU-Landeschef Marcus Weinberg schätzt Scholz ebenso als „erfahrenen Verhandlungspartner“: „Aber dass er nun ausgerechnet über Themen wie Lohnentwicklung und Energiewende mit der Union verhandeln soll, ist schon besonders. Er war es doch, der mit der Position Hamburgs im Bundesrat maßgeblich Projekte wie das CO2-Gebäudesanierungsprogramm und die Absenkung der ‚Kalten Progression‘ blockiert hat. Wir werden sehen, ob Olaf Scholz in diesen Themen ein verlässlicher Verhandlungspartner für die Union sein kann oder eher ein politischer Taktierer.“

Doch es wird in der SPD entlang der Gespräche mit der Union auch um Personalien geht, um einen Machtkampf in der Partei. Jeder, der bundespolitisch eine Rolle bei den Sozialdemokraten spielen will, stellt sich jetzt ins Rampenlicht – also auch Scholz. Dass Gabriel sowohl ihn als auch Kraft in die Verhandlungen mit der Union eingebunden hat, gilt als geschickter Schachzug: Scheitert das Bündnis, stünden auch Gabriels innerparteiliche Konkurrenten als Verantwortliche da. Glücken die Verhandlungen, stünde Gabriel gut da. So werden Genossen wie Kahrs auch nicht müde zu betonen, welch „hervorragende Arbeit“ der Parteivorsitzende mache. Gabriel habe die SPD 2009 nach der Wahlniederlage „zusammengehalten und aufgebaut“.

Für Scholz ist nun entscheidend, dass SPD und Union ihr Gesicht wahren. Aus seiner Sicht ist klar, dass es nach der Bundestagswahl eine Mehrheit für rot-grüne Inhalte gibt, die aber nicht zustande kommen kann, weil eine Zusammenarbeit mit den Linken ausgeschlossen ist. Andererseits braucht Angela Merkel einen Koalitionspartner. Dass allerdings mit Druck kein dauerhaftes Bündnis zustande kommt, davon ist Scholz überzeugt. Vielmehr geht es darum, dass ein möglicher Koalitionsvertrag vor dem bestehen muss, was beide Parteien vorher gesagt haben. Deshalb sind ihm Festlegungen im Vorfeld der Koalitionsverhandlungen ein Graus – egal, von welcher Seite. Wenn etwa CDU-Vizechefin Julia Klöckner Steuererhöhungen kategorisch ausschließt oder Parteifreund Kahrs sechs Ministerposten fordert, widerspricht das dem scholzschem Gebot der Zurückhaltung. Sein Umfeld spricht dann boshaft von „C-Promis aus dem Dschungelcamp“. Langfristig kann man aus Scholz’ Sicht nur zusammenarbeiten, wenn man bei Verhandlungen nicht alles nimmt, was man kriegen kann.