Kanzlerwahl frühestens im Advent? Der Bundespräsident erhöht den Druck – und lädt die Spitzenpolitiker aller Parteien ins Schloss Bellevue ein

Berlin/Hamburg. Bislang hält sich Bundespräsident Joachim Gauck bedeckt, was er über die politische Gemengelage nach der Bundestagswahl denkt. Auch bei der Verabschiedung von Verbraucherministerin Ilse Aigner verzichtete er am Montag auf Mahnungen oder Seitenhiebe an die Parteien. Er beließ es stattdessen bei einer „protokollarisch, nüchternen Zeremonie“, gespickt mit netten Worten an die zurück nach Bayern ziehende CSU-Politikerin. Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) übernimmt bis zur Bildung einer neuen Regierung auch das Verbraucher- und Agrarressort.

Neutralität und Normalität – das will Gauck ausstrahlen in diesen ersten Tagen nach der Wahl. Dabei mischt er sich kräftig ein. Auch bei der Suche nach einer neuen Regierung: Sämtliche Vorsitzenden der im Bundestag vertretenen Parteien hat er zu Vier-Augen-Gesprächen geladen – den Anfang machte am Montag CDU-Chefin Angela Merkel. Gauck dürfte damit eine klare Botschaft an seine Gesprächspartner verbinden. Als Demokrat kann es ihm nicht recht sein, wenn vom Volk legitimierte Parteien sich am Ende nicht einigen können. Zudem lehnen auch die Bundesbürger Neuwahlen zu drei Viertel ab – und er wäre derjenige, der den Bundestag auflösen müsste.

Der Berliner Politikwissenschaftler Oskar Niedermayer vermutet, Gauck wolle ein Gefühl dafür bekommen, ob es mit der Bildung einer schwarz-roten oder gar einer schwarz-grünen Koalition etwas werden könne. Ansonsten könnte das Staatsoberhaupt bald vor der Entscheidung stehen, ob es Neuwahlen geben soll. „Es ist schon zu verstehen, dass er vorher Signale haben möchte“, sagt Niedermayer. Für heute plant Gauck ein Treffen mit SPD-Chef Sigmar Gabriel. Von Mittwoch an folgen Linkspartei, Grüne und CSU.

Allerdings ist nicht damit zu rechnen, dass die Signale der Parteichefs eindeutig ausfallen werden. Und es ist auch nicht damit zu rechnen, dass sich Union, SPD und Grüne schnell einigen – sei es auf Schwarz-Rot oder Schwarz-Grün. Die Spitzenpolitiker warnen die Wähler bereits vor: Die Bildung einer neuen Regierung wird voraussichtlich noch Monate dauern. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe sagte in Berlin, dass man sich nicht unter Termindruck setzen lassen wolle. „Wir sollten gründlich verhandeln“, sagte Gröhe. Er nannte die Themen Wirtschaft, Arbeitsmarkt und die Stabilität des Euro als Schwerpunkte der Gespräche mit der SPD. Auch bei den Sozialdemokraten geht man inzwischen davon aus, dass dieser Termin nicht gehalten werden kann. „Im Zweifel wird das alles länger dauern. Wir machen uns da die Hose gar nicht eng“, sagte SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles. „Das kann mit der endgültigen Regierungsbildung Dezember, Januar werden.“ Bei der SPD wird nicht die Parteispitze über die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen entscheiden, sondern der am Freitag formal nur unterbrochene Parteikonvent mit 200 Delegierten. Der Zeitpunkt für die nächste Sitzung des Konvents ist offen. Für die SPD sind gesetzlicher Mindestlohn, sichere Renten, Mietpreisbremse und Abschaffung des Betreuungsgeldes wichtig in den ersten Gesprächen mit der Union.

Damit dürfte die Kanzlerwahl frühestens im Advent stattfinden. Bundespräsident Gauck kann jedoch die bisherige Regierung bitten, geschäftsführend im Amt zu bleiben. Auch 2005 war die Einigung zwischen Union und SPD kein Selbstläufer. Damals dauerte es mehr als zwei Monate bis zur Vereidigung der neuen Regierung und der Wahl Angela Merkels zur Bundeskanzlerin.

Immerhin: Einen neutralen Ort für ihre Sondierungsgespräche haben Union und SPD schon gefunden. In der „Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft“ wollen sie sich am Freitagmittag erstmals treffen. Das ehemalige Reichstagspräsidentenpalais ist der Sitz einer überparteilichen Vereinigung von Abgeordneten. Hier fanden schon vor acht Jahren Verhandlungen statt, die in der Bildung einer Großen Koalition mündeten. Der Treffpunkt ist mit Bedacht gewählt: Eine Landesvertretung, geschweige denn eine Parteizentrale, würde die Vormachtstellung eines Gastgebers symbolisieren. So weit ist man zwölf Tage nach der Wahl noch nicht.

In den Sondierungsgesprächen wollen die Vertreter der Parteien zunächst einmal herausfinden, ob konkrete Koalitionsverhandlungen überhaupt Sinn machen. Die SPD-Führung wird auf klare Zugeständnisse der Union dringen. Die 200 Delegierten des sogenannten SPD-Konvents werden sich ohne ein deutliches Entgegenkommen der Union wohl kaum für Schwarz-Rot begeistern können. CDU und CSU werden sich als Wahlsieger aber nicht unter Druck setzen lassen. Die Unionsparteien können schließlich auch mit den Grünen verhandeln, wenn es mit der SPD nicht läuft. Ein Sondierungsgespräch mit den Grünen soll in der nächsten Woche stattfinden.

Als Gretchenfrage für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen kristallisiert sich das Thema Steuern heraus. In den Sondierungsgesprächen werden Union und SPD eine klare Ansage zum künftigen Kurs in der Steuerpolitik machen müssen. Für ein informelles erstes Gespräch zwischen den Parteien wird die Runde ziemlich groß. CDU, CSU und SPD wollen jeweils sieben Vertreter schicken. Neben den Parteivorsitzenden Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) und Sigmar Gabriel (SPD) sind die Generalsekretäre, Fraktionschefs sowie einige Ministerpräsidenten sowie Bundes- und Landesminister dabei. Die beiden einzigen Teilnehmer ganz ohne Amt sind der gescheiterte SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück und die am Montag aus dem Kabinett ausgeschiedene Aigner. Für die SPD wird auch Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz mit am Verhandlungstisch sitzen.

Es ist nicht sicher, ob ein Tag für die Sondierung reicht. Vielleicht werden es auch zwei oder drei. Dann will die Union noch mit den Grünen sprechen. Falls die Entscheidung positiv ausfällt, wird wochenlang in großer Runde und in Arbeitsgruppen verhandelt.