Erst die Rücktritte von Claudia Roth, Renate Künast und Jürgen Trittin und dann ein absurder Zweikampf: Die Fraktion sucht nach der verheerenden Wahlniederlage einen Neuanfang.

Berlin. Er ist eine Zäsur, dieser Tag. Er beginnt ganz früh mit dem Ende einer Ära. Dann stürzt er die Grünen in ein mittelschweres Chaos. Und am Schluss kann der Beginn einer neuen Zeitrechnung stehen, zumindest aber der Start in eine neue Grünen-Generation. Der Chaostag bei den Grünen wird in Erinnerung bleiben. Claudia Roth wird nicht wieder für den Parteivorsitz der Grünen kandidieren. Um 7.40 Uhr sagt sie im ARD-Morgenmagazin: „Ich werde nicht mehr antreten für den Bundesvorstand.“ Und weiter: „Ich möchte mich in der Fraktion bewerben für das Amt der Bundestagsvizepräsidentin.“

Nach mehr als elf Jahren und einer herben Wahlniederlage ganz am Schluss verlieren die Grünen ihr Gefühlszentrum, ihr Emotionsbarometer, ihre Herzdame. Durchaus ein Verlust, nach einer überwiegend technokratischen, zahlenlastigen und damit missglückten Wahlkampagne. Roth, die mit den Fehlern im Bundestagswahlkampf vergleichsweise wenig zu tun hatte, die gar nicht anders kann, als die Wähler mit starken Emotionen anzusprechen, die gleich von Anfang an einen mitfühlenden Ton in der Debatte um pädophile Strömungen in den Grünen-Anfangsjahren gefunden hatte. Diese Roth wird nicht mehr das Grünen-Gesicht sein. Aber Roth galt eben auch schon vor dem Wahlkampf als schwer angeschlagen. Sie hatte sich im vorigen Jahr früh vorgewagt mit ihrem Wunsch, die Grünen in diesem Herbst in die Bundestagswahl zu führen. Und sie war beim anschließenden Mitgliederentscheid dramatisch abgestraft worden. Dass sie dann noch einmal im Frühjahr als Parteivorsitzende bestätigt wurde, sieht am Chaostag nur noch aus wie eine Ehrenrunde der 58-Jährigen.

Über Roths Nachfolge an der Grünen-Parteispitze schießen Spekulationen los. Im Gespräch ist Simone Peter, Grünen-Politikerin aus dem Saarland. Gesucht wird eine Parteilinke, die an der Seite von Realo Cem Özdemir die Grünen zu neuer Stärke führen soll. Özdemir will trotz des Wahldebakels vom Sonntag auf dem nächsten Parteitag in einigen Wochen wieder als Parteichef kandidieren. Offenbar halten sich die Realos nicht für die Hauptschuldigen nach der Niederlage. Und es gelingt ihnen, diese Lesart in den eigenen Reihen durchzusetzen.

Künast will gegen Roth antreten

Drei Stunden später kommt auch der rechte Parteiflügel in Bewegung: Renate Künast kündigt ihren Rückzug von der Spitze der Bundestagsfraktion an. Sie wolle der nötigen Neuaufstellung nicht im Wege stehen, erklärt die 57-Jährige. Das Aus für die frühere Parteichefin und Verbraucherschutzministerin. Soweit wirken die Grünen ganz gut sortiert: Spitzenkräfte, die in der vom Wahldebakel geschockten Partei ohnehin keine rosigen Aussichten mehr gehabt hätten, räumen das Feld.

Künast war nach ihrer verpatzten Spitzenkandidatur für die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus 2011 und nach dem vergeblichen Anlauf für die Spitzenkandidatur zur Bundestagswahl ebenfalls in den eigenen Reihen in Ungnade gefallen. So weit alles klar. Doch dann löst Künast ein mittelschweres Personalchaos aus – und zwar mit ihrem Plan, genau wie Roth für den Posten der Bundestagsvizepräsidentin anzutreten.

Zwei Kandidatinnen für ein gut dotiertes, aber politisch laues Amt. Haben die beiden nichts dazugelernt? Zu früh hatten Roth und Künast sich im vorigen Jahr auf eine Spitzenkandidatur für die Bundestagswahl versteift und wurden von der Basis düpiert. Von Roth gab es Tränen, Künast schmollte. Als Siegerin ging aus dem Kuddelmuddel Katrin-Göring-Eckardt hervor, ausgerechnet sie wurde Spitzenkandidaten und ausgerechnet sie hat auch jetzt den Job, den Roth und Künast wollen. Sie ist Parlamentsvizepräsidentin. Noch. Auch das wird sich im Laufe dieses Chaostages ändern. Aber um die Mittagszeit stehen die Grünen als gerupfter Haufen da: Zwei Rücktritte, die aber zu einer neuerlichen Kampfkandidatur führen, nämlich um den Posten der Grünen im Parlamentspräsidium. Panik in der Führungsspitze. Durcheinander statt Aufräumarbeiten.

Und die beiden Spitzenkandidaten, die den eigentlichen Wahlkampf zu verantworten haben, schweigen noch. Jürgen Trittin, der von allen Seiten in die Mangel genommen wird für seinen linken Wahlkampf, der sich vor allem um Steuererhöhungen drehte und nicht mehr um das Kernthema der Grünen, die Umwelt- und Energiepolitik. Und Katrin Göring-Eckardt, die viele Realos enttäuscht hat, weil sie Trittin keine eigenen Akzente entgegengesetzt hat.

Auch die Ära Trittin endet

Um 13.45 Uhr plötzlich kommt Trittin aus der Deckung. Er sitzt in der Grünen-Bundestagsfraktion, zum ersten Mal treffen sich alte und neue Abgeordnete. Trittin twittert: „Ich werde für Fraktionsspitze nicht wieder antreten. Über Sondierungsgespräche entscheidet nicht die CSU. Die werden Katrin und ich mitführen.“ Vor den Abgeordneten äußert Trittin sich ähnlich. Langer Applaus ist die Antwort, die Fraktionsmitglieder stehen auf. Noch eine Ära geht zu Ende, die dritte schon an diesem Tag. Der einstige kommunistische Hausbesetzer, der Erfinder des Atomausstiegs, der Dosenpfand-Minister, der neue Finanzfachmann – er tritt ab.

In diesen Minuten beginnt schon das Ringen um die Deutungshoheit über die Geschichte dieses Rücktritts. Diese Erzählung ist wichtig für Trittin, dafür, wie er in Erinnerung bleibt. Sein Umfeld stellt klar, dass es nicht die massive Kritik aus vielen Landesverbänden war, nicht die scharfen Worte von Joschka Fischer, der sich im „Spiegel“ zu Wort gemeldet hatte. Trittin habe sich bereits am Sonntagabend zum Rückzug entschlossen, heißt es von seinen Helfern. Aber es gibt auch andere Stimmen in der Partei, die von Trittin ein langes Pokern erwartet hätten. Trittin, dem versierten Taktierer, der sein Geschick etwa beim Vorstoß für Joachim Gauck als Kandidat für das Bundespräsidialamt unter Beweis gestellt hatte. Er brachte damit Union und FDP 2010 ins Straucheln und 2012 sogar zum Einlenken. Trittins Rückzug ist nun Verlust und Chance zugleich. Verlust weil er eben ein so schlauer Politiker ist, und Gewinn, weil mit ihm eine Reizfigur der Unionsparteien die politische Bühne verlässt. Trittin ebnet den Weg für die Möglichkeit einer schwarz-grünen Regierungszusammenarbeit. Aber natürlich möchte der Parteilinke nicht, dass es so aussieht.

Merkel schätzt Göring-Eckardt

Göring-Eckardt bleibt stehen, trotz der schweren Wahlniederlage. Sie scheint wie Özdemir als Realo mit der Strategie durchzukommen, die Schlappe dem linken Flügel anzulasten. In der Fraktionssitzung kündigt sie an, sich für die Führungsspitze zu bewerben. Ein weiteres Signal für eine schwarz-grüne Option. Göring-Eckardt wird von Angela Merkel (CDU) geschätzt. Sie gilt von jeher als bürgerliche Grüne, wohl auch trotz ihres linken Anstrichs für den zurückliegenden Wahlkampf. Das Problem bei Sondierungsgesprächen mit der Union: Mit Trittin und Roth sitzen dann zwei Grüne am Verhandlungstisch, die eigentlich nichts mehr zu sagen haben. Und Göring-Eckardt und Özdemir braucht die Unionsseite nicht als besonders harte Gegenspieler zu fürchten. Das sieht nach geschwächten Grünen aus. Und nach einem schwachen linken Flügel, der sich erst noch neu sortieren muss.

In der Fraktion spricht dann Anton Hofreiter, der bayerische Verkehrsexperte: Er will Trittins Platz an der Fraktionsspitze einnehmen. Er ist der Unbekannte an diesem Tag. Aber immerhin steht am späten Nachmittag fest, wie das künftige Machtzentrum der Partei aussehen dürfte, die Fraktionsspitze, die für eine Oppositionspartei wichtiger ist als die Parteizentrale: Die milde und anpassungsfähige Göring-Eckardt und der etwas ungestüme, aber gewiefte Hofreiter.