Vor fast 70 Jahren richteten SS-Soldaten ein Massaker in Frankreich an. Bundespräsident Joachim Gauck besucht als erster deutscher Politiker den Ort

Oradour-sur-Glane. Am Mittwochvormittag wurde Joachim Gauck durch die prachtvollen Flure und Säle des Hotel de Ville in Paris geführt. Im größten Rathaus Europas durchschritt der Bundespräsident Räume mit prunkvollen Wandteppichen und riesigen Gemälden. Nur wenig später und eine gute Flugstunde von Paris entfernt, in Oradour-sur-Glane, schreitet der Bundespräsident, begleitet von seinem französischen Amtskollegen François Hollande, durch eine Trümmerlandschaft. Ruinen, wohin man blickt: gesprengte Häuser, eingerissene Fassaden, Autowracks. Bilder, wie man sie nur aus der Nachkriegszeit kennt. Oradour-sur-Glane erscheint wie eine Filmkulisse, doch es ist ein Ort des Schreckens, der Brutalität. Ein Dorf, in dem Angst und massenhafter Mord herrschten, wo sich menschliche Abgründe zeigten auf so unmenschliche Weise.

Am 10. Juni 1944 trieben Soldaten des SS-Panzergrenadier-Regiments „Der Führer“ die Einwohner von Oradour-sur-Glane auf dem Marktplatz zusammen. In den Abendstunden begingen die Soldaten, unter ihnen viele junge Männer, das brutalste deutsche Kriegsverbrechen in Frankreich. Die Männer wurden in Scheunen getrieben und erschossen, die Frauen und Kinder in die Kirche gepfercht, erstickt, erschossen oder verbrannt. Innerhalb weniger Stunden ermordeten die SS-Soldaten 642 Menschen. Das jüngste Opfer war ein Baby. Es wurde acht Tage alt.

Die beiden Präsidenten werden von Robert Hébras durch das Dorf geführt. Hébras leitet solche Führungen seit vielen Jahren, unermüdlich. Der rüstige 89-Jährige ist einer von wenigen Überlebenden des bestialischen Massenmords. Kaum 20 Jahre alt war Hébras damals, in Oradour war er aufgewachsen, hier absolvierte er eine Kfz-Lehre, hier spielte er Fußball. Am Tag des Terrors wurde er mit vielen anderen Männern in eine Scheune gescheucht. Mit Maschinengewehren schossen die SS-Leute zunächst in die Beine, und wer sich dann noch regte, dem jagten sie die Kugeln in den Kopf. Hébras und vier andere Männer konnten fliehen. Nun steht Hébras vor den Ruinen jener Scheune, erläutert seinen Gästen, was damals geschah.

Gauck und Hollande, Daniela Schadt und Valerie Trierweiler lassen sich von Hébras die Kirche zeigen, in der einst die Frauen und Kinder in die Luft gesprengt und anschließend verbrannt wurden. Hébras’ Mutter kam hier zu Tode und seine zwei Schwestern. Langsamen Schrittes durchqueren sie das Dorf der Märtyrer, wie sich das alte Oradour heute nennt. Entlang der einstigen Hauptstraße mit ihren alten Straßenbahnschienen gehen sie, vorbei an den Häusern, die einst Café, Friseur und Apotheke beherbergten. An der alten Autowerkstatt prangt noch ein Renault-Schild aus Metall. Mucksmäuschenstill ist es, trotz der vielen Fotografen und Reporter. Der strahlend blaue Himmel und die gleißende Sonne – sie wirken an diesem Ort des Terrors unwirklich.

„Warum Oradour?“, fragt Gauck den alten Mann, und der berichtet von der Willkür der SS. „Es sollte einfach irgendeinen Ort treffen?“, hakt Gauck nach. François Hollande erkundigt sich nach der Zahl der Überlebenden. „Six“, antwortet Hébras. Sechs. Er ist einer von ihnen. Nur noch ein weiterer Überlebender lebt heute noch. „Sie sind diesen Weg bestimmt schon 1000-mal gegangen“, wendet sich Gauck noch einmal an Hébras, „und jedes Mal ist es wohl etwas Besonderes.“ Hébras lässt sich die Worte des Präsidenten übersetzen. Dann nickt er zustimmend.

Es war Joachim Gaucks Wunsch, nach Oradour-sur-Glane zu reisen. Im Mai, während einer Begegnung in Leipzig, sagte Hollande zu – und kündigte an, Gauck zu begleiten. In einer französischen Regierungsmaschine flogen beide von Paris aus hierher. Hollande ahnte, dass mit Gauck ein gemeinsamer Besuch an diesem heiklen Ort möglich wäre.

Noch nie war ein führender deutscher Politiker in Oradour. Gaucks Besuch also ist eine Premiere; die Opferfamilien verzichteten auf ein Veto, auch wenn einige skeptisch blieben. Vor einigen Jahren war das noch nicht möglich gewesen. Dabei ist Gauck, im Gegensatz zu den meisten handelnden deutschen Politiker, noch ein Kriegskind, geboren im Jahr 1940 – und vielleicht macht gerade dieser Umstand deutlich, wie sehr die Franzosen den Deutschen verziehen haben und vertrauen.

Für Gauck ist der Besuch die Fortsetzung einer Serie, die er am Anfang seiner Präsidentschaft begonnen hatte. Im Mai 2012 hielt er im niederländischen Breda eine Rede am „Tag der Befreiung“. Eine einstige KZ-Insassin umarmte und küsste den Bundespräsidenten, was ihn bis heute bewegt. Vor einem Jahr besuchte Gauck das tschechische Lidice. Deutsche Polizeieinheiten hatten die Bewohner Lidices erschossen oder deportiert. Im März gedachte Gauck in Sant'Anna di Stazzema (Toskana) der 400 Opfer eines Massakers der Waffen-SS.

Die Vergangenheit ist ein Lebensthema für Joachim Gauck. Von „inneren Kämpfen“ mit dem eigenen Deutschsein berichtet Gauck aus seiner Jugend. Er befragte seine Eltern nach ihrem Leben im Nationalsozialismus. Gauck sagt, er habe sich damals als Angehöriger eines Volkes definiert, „das man eigentlich hassen musste“. Zwei Botschaften will er den Nachbarn vermitteln. Sie lauten: „Ihr könnt euch auf uns verlassen“ – und „Ich beuge meine Haupt vor euren Opfern.“

An die Opferfamilien wendet sich Gauck während seiner Rede im Gedenkzentrum direkt: „Ich teile Ihre Bitterkeit darüber, dass Mörder nicht zur Verantwortung gezogen wurden, dass schwerste Verbrechen ungesühnt geblieben sind. Sie ist auch meine Bitterkeit. Ich nehme sie mit nach Deutschland, und ich werde in meinem Land davon sprechen, und ich werde nicht verstummen.“ Die Einladung nach Oradour sei eine „Geste der Versöhnung“ – eine Geste, „die man nur geschenkt bekommen kann“.

In Paris hat Gauck mit Hollande über den Giftgas-Terror in Syrien gesprochen. In Oradour meidet er in seiner Rede dieses Thema. Er will sich den Opfern und ihren Familien widmen. Und Gauck weiß um die Grenzen seines Amtes: Er hat keine eigentliche Macht. Der Bundespräsident wirkt durch Gesten und das gesprochene Wort. In Oradour zeigt er, wie sehr ihm dies liegt.