Versöhnen, nicht vergessen – Gaucks historischer Besuch in Oradour-sur-Glane

Das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich wird seit Jahrzehnten vorrangig unter dem Aspekt der europäischen Vereinigung betrachtet. Da gibt es das überstrapazierte Bild des deutsch-französischen Motors, der nicht immer rundläuft, aber dennoch Europas Triebwerk darstellt. Hin und wieder findet sich auch ein Hinweis auf ökonomische und politische Rivalitäten. Doch ist die Ehe zwischen Marianne und Michel derart bedeutend für das Wohl und Wehe des Kontinents, dass man die alten Wunden lieber ignoriert und eher das gemeinsame karolingische Erbe beschwört. NS-Gräueltaten? Man denkt sofort an Auschwitz, Treblinka und jene anderen Orte, an denen die Schergen des „Führers“ die Tore zur Hölle weit aufgerissen haben.

Dass es aber auch in Frankreich, zum Beispiel nahe dem malerischen Limoges, Höllenschlunde aus dieser Zeit gibt, ist fast vergessen. Noch heute ist der Ort Oradour-sur-Glane eine flammengeschwärzte Ruine, seitdem dort eine SS-Kompanie am 10. Juni 1944 nahezu alle Einwohner des Dorfes niederschoss oder lebendig verbrannte. 642 Menschen starben, nur sechs entkamen dem Massaker, dem entsetzlichsten in Westeuropa. Viele Kinder verbrannten mit ihren Müttern in der von außen verrammelten und von den SS-Männern angezündeten Kirche. Auch in diesem Fall streikt der Verstand, wenn er begreifen soll, dass Menschen zu solchen Bestialitäten fähig sind. Bis heute ist nicht geklärt, warum die SS einfach ein ganzes Dorf ausradierte. Und bis heute ist Oradour-sur-Glane eine offene Wunde im deutsch-französischen Verhältnis. Dass Bundespräsident Joachim Gauck als erstes deutsches Staatsoberhaupt dorthin fahren und sich vor den Toten verneigen konnte, dass ihn die Bürger des heutigen Ortes Oradour, der neben den Ruinen steht, als ersten deutschen Offiziellen überhaupt empfingen, schlägt ein neues Kapitel in den Beziehungen auf. Er repräsentiere ein anderes Deutschland, hat Gauck betont. Die Franzosen geben diesem Deutschland die Hand und eine Chance – wie dies Niederländer, Norweger, Polen und viele andere Europäer auch tun.

Doch können und dürfen derartige Versöhnungsgesten beider Seiten nicht den Charakter eines Schwamms haben, der schmerzhafte und für viele auch lästige Erinnerungen auslöscht. Niemals darf vergessen werden, was dort und an anderen Orten geschah – doch nicht etwa, um Asche und Schuldgefühle auf die Häupter der heutigen deutschen Generationen zu häufen, die nichts, aber auch gar nichts dafürkönnen. Sondern als ewige Mahnung. Denn dass dieser entsetzliche Schoß noch fruchtbar ist, dass Derartiges noch immer geschehen kann, zeigt das Beispiel des bosnischen Ortes Srebrenica, in dem 1995 serbische Milizen 8000 hilflose Zivilisten ermordeten.

Doch ebenso mahnend wie beschämend für die Bundesrepublik Deutschland ist nicht nur die Tat von Oradour-sur-Glane selber, sondern auch, dass unser Land bei der strafrechtlichen Aufarbeitung so jämmerlich versagte. Keiner der Mörder wurde jemals bei uns verurteilt. Der am Massaker beteiligte Obersturmführer Heinz Barth, in der DDR zu lebenslanger Haft verurteilt, kam wenige Jahre nach der Wiedervereinigung frei und klagte dreist auf Kriegsversehrtenrente. Er starb 2007. Der Kommandeur der SS-Division „Das Reich“, General Heinz Lammerding, machte nach dem Krieg Karriere als Bauunternehmer, wurde nie für einen Prozess an Frankreich ausgeliefert und starb friedlich 1971. Doch selbst in Frankreich war nur sechs Jahre nach dem Massenmord kein Beteiligter mehr in Haft. Unfassbar, auch dies.

Für viele junge Leute klingt all dies wie Schilderungen aus dem Dreißigjährigen Krieg. Doch noch immer leben Zeitzeugen wie der 89-jährige Robert Hébras. Seine Mutter und seine Schwestern verbrannten in der Kirche von Oradour. Er entkam – und setzt sich heute für die deutsch-französische Freundschaft ein. Hand in Hand mit Gauck: Mehr Großmut und Versöhnungswillen gehen nicht.