US-Agenten spähen Deutschland und die EU aus – millionenfach. Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger ist entsetzt und verlangt Aufklärung

Berlin/Brüssel. In der Steinzeit der Spionage gab es tote Briefkästen, verschlüsselte Radiodurchsagen oder geschmuggelte Fotokopien. Wie es heute läuft, versucht der russische Geheimdienst derzeit von Edward Snowden in Erfahrung zu bringen. Der frühere Mitarbeiter der US-amerikanischen National Security Agency (NSA), der seit Ende Mai mit vier Laptops voller Geheiminformationen auf der Flucht ist und derzeit im Transitbereich des Flughafens Scheremetjewo in Moskau residiert, füttert die Öffentlichkeit laufend mit Details zu den Methoden seines ehemaligen Arbeitgebers. Der Whistleblower hat unter anderem das Prism genannte Spähprogramm der USA enttarnt, die britische Spionagesoftware Tempora und die Zusammenarbeit der staatlichen Geheimdienste mit privaten Unternehmen wie Google, Facebook oder Microsoft.

Nun erhielt das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ Einblick in einen Teil der von Snowden entwendeten NSA-Dokumente. Die brisante Erkenntnis: Die US-Spione spähen Daten in einem Umfang aus, der die Arbeitsergebnisse klassischer Agenten wie ein Sandkorn an der Copacabana wirken lässt. Und betroffen sind keineswegs nur irgendwelche Schurkenstaaten, sondern beinahe alle Verbündeten der Amerikaner – darunter die Bundesrepublik und die Europäische Union.

So soll die NSA systematisch einen Großteil der Telefon- und Internetverbindungsdaten in Deutschland kontrollieren und speichern. Laut einer internen Statistik des Geheimdienstes würden in der Bundesrepublik monatlich rund 500 Millionen Kommunikationsverbindungen überwacht, darunter Telefonate, Mails, SMS oder Chats. Mit Billigung des Weißen Hauses werde auch die Bundesregierung gezielt ausgeforscht, „wohl bis hinauf zur Kanzlerin“, mutmaßt der „Spiegel“. Erfasst würden dabei nicht die Inhalte, sondern die Metadaten – also wer mit wem von welchem Anschluss wie lange kommuniziert. So lassen sich Kontaktpersonen fest- und Bewegungsprofile erstellen.

Deutschland sei dabei das Land in Europa, das die NSA am stärksten ausspähe. Hier würden weit mehr Daten abgeschöpft als etwa in Frankreich. Das Interesse gelte vor allem mehreren großen Internetknoten in Süd- und Westdeutschland. In Frankfurt habe die NSA Zugang zu den Knoten, die vor allem den Datenverkehr mit Krisenländern wie Mali und Syrien, aber auch Osteuropa regelten. Vieles spreche dafür, dass der Dienst die Daten teils mit, teils ohne Wissen der Deutschen absauge. Das ist insofern relevant, als das Bundesverfassungsgericht deutschen Sicherheitsbehörden 2010 verboten hatte, solche Vorratsdaten ohne konkreten Verdacht zu speichern und zu verwenden. Darüber hinaus prüft die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe bereits, ob bei der Kommunikationsüberwachung staatsschutzrelevante Delikte vorliegen könnten.

Aus den NSA-Papieren soll hervorgehen, dass lediglich ausgewählte Partnerstaaten der USA – namentlich Kanada, Australien, Großbritannien und Neuseeland – von den Spionageattacken ausgenommen sind. Deutschland dagegen werde ausdrücklich als „Angriffsziel“ und „Partner dritter Klasse“ betrachtet. Weiterhin sind Institutionen der EU von der Spionage betroffen. So sollen Wanzen in den Gebäuden der EU-Vertretungen in Washington und bei den Vereinten Nationen in New York installiert und deren interne Computernetze infiltriert worden sein. Auch für einen Lauschangriff gegen das Justus-Lipsius-Gebäude in Brüssel vor fünf Jahren sei die NSA verantwortlich. Dort verfügt jeder EU-Staat über Räume mit Telefon- und Internetanschlüssen für Minister. Die Attacke sei ins Nato-Hauptquartier im Brüsseler Vorort Evere zurückverfolgt worden, und zwar in einen abgeschirmten Bereich, der von NSA-Experten genutzt werde. Die Politik in Berlin und Brüssel reagierte bestürzt. „Wenn die Medienberichte zutreffen, erinnert das an das Vorgehen unter Feinden während des Kalten Krieges“, sagte Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). „Es sprengt jede Vorstellung, dass unsere Freunde in den USA die Europäer als Feinde ansehen.“ Während die Amerikaner ihre Spähprogramme mit der Notwendigkeit einer Terrorabwehr begründen, fürchtet Vizekanzler Philipp Rösler (FDP) die Möglichkeit der Wirtschaftsspionage. Er forderte von Amerikanern und Briten diesbezüglich Aufklärung. „Als Bundesminister für Wirtschaft und Technologie sei mir der Hinweis gestattet: Ich gehe davon aus, dass die Informationsbeschaffung ausschließlich das Ziel hat, den Terrorismus zu bekämpfen“, sagte Rösler. Wirtschaftsspionage aber sei „zumindest eine Frage, die es auszuschließen gilt“. Deshalb fordere er Transparenz. Der FDP-Chef verlangte von den Verbündeten außerdem, die Arbeit ihrer Dienste nach deutschem Vorbild an „umfassende parlamentarische Kontrolle“ zu knüpfen.

Auch EU-Politiker äußerten sich empört. „Ich bin zutiefst besorgt und schockiert“, sagte Martin Schulz (SPD), der Präsident des Europäischen Parlaments. „Wenn sich die Vorwürfe als wahr herausstellen, wäre das ein sehr ernsthaftes Problem, das die Beziehungen zwischen der EU und den USA schwer belasten würde.“ Schulz forderte Aufklärung und „schleunigst weitere Informationen von den US-Behörden“. Markus Ferber, Chef der CSU-Abgeordneten im Europaparlament, sagte: „Ein demokratischer Rechtsstaat, der mit Stasi-Methoden arbeitet, macht sich selbst als moralische Instanz höchst unglaubwürdig. Das hat Vertrauen zerstört.“ Ferber sieht jetzt Amerika am Zug: „Es ist jetzt die Aufgabe der USA, das Vertrauen der Europäer wiederzugewinnen. Die anstehenden Freihandelsgespräche wären ein guter Anlass dafür.“