Das überraschende Minus bei der neuen Volkszählung hat viele Gründe. Die Ergebnisse könnten einige Kommunen hart treffen. Besonders Hamburg

Berlin. Das hatten die Statistiker nicht erwartet. Um sich auf die Volkszählung vorzubereiten, hatten die Experten einen Probezensus durchgeführt. Nach der Auswertung lagen allerdings Zahlen vor, denen die Wissenschaftler zunächst nicht trauen wollten: Viele Menschen aus dem Testgebiet waren einfach verschwunden. In den Melderegistern dieses Testgebiets befanden sich noch die Daten von Personen, die schon lange fortgezogen oder verstorben waren. Als die Statistiker die Testergebnisse auf ganz Deutschland hochrechneten, mussten sie sich erst einmal die Augen reiben. Demnach lebten in Deutschland 1,3 Millionen Menschen weniger als bisher angenommen.

Die nun veröffentlichten Ergebnisse der Volkszählung belegen, dass die Wissenschaftler die Zahl der Karteileichen in den Meldeämtern der Republik sogar noch unterschätzt hatten: In Deutschland gibt es rund 1,5 Millionen Menschen weniger als angenommen. Vor allem Ausländer waren bisher offenbar nicht korrekt erfasst: Hierzulande lebten offenbar 1,1 Millionen Ausländer weniger als zuvor vermutet.

Der Grund für den Menschenschwund: Seit der letzten Volkszählung sind in Westdeutschland 24 Jahre vergangen, in Ostdeutschland sogar 30 Jahre. Seitdem sind viele Menschen durch das Raster der Einwohnermeldeämter gerutscht. Aber dass die Diskrepanz so groß ist, verblüfft selbst Experten. „Das wundert mich“, sagte Klaus-Heiner Röhl, Leitender Volkswirt am Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) nach der Veröffentlichung des Test-Zensus. „Mir ist unverständlich, warum die anhand der Melderegister fortgeschriebenen Zahlen so schlecht sind.“

Statistikexperten kennen viele Gründe, warum nicht alle Menschen, die hierzulande leben, in den Registern auftauchen. Vor allem Menschen aus dem Ausland, die nach Deutschland ziehen und sich hier anmelden, vergessen häufig, sich wieder abzumelden, wenn sie das Land verlassen. Häufig steckt dahinter vermutlich auch Absicht: „Ausländer haben keinen Anreiz, sich abzumelden, wenn sie ins Ausland ziehen“, sagt Gert Wagner, der Vorsitzende der Zensuskommission, die das Statistische Bundesamt bei der Volkszählung wissenschaftlich berät. „Viele Ausländer von außerhalb der EU haben einen massiven Anreiz, sich bewusst nicht abzumelden. Sie würden sonst mit der Abmeldung ihren Aufenthaltsstatus verlieren.“ Schließlich wisse nicht jeder, der in seine Heimat zurückkehre, ob die Rückkehr dauerhaft sei. Knapp 6,2 Millionen Einwohner (7,7 Prozent) besitzen ausschließlich eine ausländische Staatsangehörigkeit. Das sind 14,9 Prozent oder fast 1,1 Millionen Personen weniger als bislang angenommen. Angaben darüber, wie viele Bürger eine doppelte Staatsbürgerschaft besitzen, konnten die Statistiker nicht machen. Der Ausländeranteil an der Bevölkerung schwankt je nach Bundesland erheblich.

Knapp jeder fünfte Bürger hat mittlerweile ausländische Wurzeln, das heißt er oder mindestens ein Elternteil ist nach 1955 nach Deutschland eingewandert. Auch hier gibt es beträchtliche regionale Unterschiede. Hamburg hat mit fast 28 Prozent den höchsten Migrantenanteil, gefolgt von Baden-Württemberg (25,2) und Bremen (25,1 Prozent). Unter den Herkunftsländern sind die Türkei mit fast 18 Prozent und Polen (13,1 Prozent) dominant. Es folgen Russland, Kasachstan und Italien.

5,7 Millionen Menschen und damit die meisten der Zuwanderer oder deren Eltern stammen aus den 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Nur geringfügig kleiner ist die Gruppe der Migranten, die ihre Wurzeln in anderen europäischen Ländern haben, wobei die Statistiker Russland und die Türkei vollständig zu Europa zählen. Knapp die Hälfte der Migranten lebt seit mindestens 20 Jahren in Deutschland.

Die Ergebnisse der Volkszählung zeigen einen deutlichen Trend zu höheren Schulabschlüssen. Unter allen über 15-Jährigen ist der Haupt- oder Volksschulabschluss mit 36 Prozent noch am häufigsten. 27 Prozent haben die mittlere Reife, 28 Prozent ein Abitur. 4,4 Prozent dieser Altersgruppe gehen noch zur Schule. 3,2 Millionen oder knapp fünf Prozent haben keinen Schulabschluss. Ein Blick auf die jüngere Bevölkerung zeigt einen deutlichen Bildungsaufstieg. Unter den 18 bis 29-Jährigen ist das Abitur, das knapp 40 Prozent vorweisen können, der häufigste Schulabschluss. Die mittlere Reife haben 30 Prozent. Unter den Senioren ab 65 haben lediglich 15,5 Prozent den höchsten Schulabschluss und 14 Prozent einen mittleren. Deutlich gestiegen ist auch der Anteil der Akademiker: Während bei den Älteren nur gut jeder Zehnte studiert hat, waren es in der Altersgruppe der 30- bis 49-Jährigen schon doppelt so viele.

Die neuen Zahlen dürften die Finanzen von Länder und Kommunen durcheinanderpflügen. Denn regional sind die Veränderungen in der Bevölkerungszahl zuweilen groß. „Die Bundesländer, die relativ gesehen am stärksten Einwohner verloren haben, werden Gelder verlieren“, sagt Michael Thöne vom Finanzwissenschaftlichen Forschungsinstitut Köln. „Und die, die relativ gesehen die geringsten Einbußen zu verkraften haben, Mittel gewinnen.“ Noch stärker gilt dies für die Städte.

Und so freuten sich am Freitag die Landespolitiker, deren Einwohnerschwund unter dem Bundesdurchschnitt lag. Wie etwa Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU). „Das sind gute Zahlen für Sachsen-Anhalt“, sagte er mit Blick auf den Bevölkerungsrückgang von 1,6 Prozent. Da das Bundesland damit unter dem durchschnittlichen Rückgang der Länder liegt, „könnte das bedeuten, dass wir mehr aus dem Länderfinanzausgleich bekommen könnten“. Ähnliches war aus Bremen zu hören. Eine Sprecherin der Finanzbehörde schätzt, dass Bremen künftig 16 Millionen zusätzlich im Länderfinanzausgleich zustehen könnten. Einbußen drohen dagegen den Ländern wie Berlin, Hamburg oder Baden-Württemberg, die bundesweit die stärksten Bevölkerungseinbußen hinnehmen mussten.

Vor allem auf die Städte dürfte die Korrektur der Einwohnerzahl erhebliche Folgen haben. Nach der Einwohnerzahl richtet sich, wie viel die Kommunen im Rahmen des Finanzausgleichs von ihrer Landesregierung überwiesen bekommen. ,„Die Gemeinden müssen zum Teil mit erheblichen Folgen rechnen“, sagt Carsten Große Starmann, Experte für Kommunalfinanzen bei der Bertelsmann-Stiftung. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund fordert die Bundesländer auf, nicht bei den Kommunen zu sparen. Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg: „Eine Straße wird nicht dadurch billiger, dass 1,5 Prozent weniger Menschen in einer Stadt leben.“ Die Änderungen bei den Bevölkerungszahlen könnten allerdings organisatorische Folgen haben, weil Einwohnerschwellen über- oder unterschritten werden. Städte mit mehr als 7500 Einwohnern müssen beispielsweise bestimmte Aufgaben übernehmen, die sonst von den Kreisen erbracht werden. Die Grenze, ob eine Stadt berechtigt ist, ihre Erhebung zur Großen Kreisstadt zu beantragen, liegt bei 20.000.

In vielen Kommunen sieht man die neue Bevölkerungs-Stichprobe mit Skepsis. Denn die neuen Einwohnerzahlen dienen als Grundlage für die nächsten zehn Jahre. Wenn also jetzt falsch gezählt wurde, leidet eine Gemeine die nächsten zehn Jahre darunter. Einige Städte haben haben sich deshalb Klagen vorbehalten. Fest steht aber angesichts der schrumpfenden Bevölkerung schon jetzt: Künftig ist jeder Bürger für Stadt und Land mehr wert.