Kanzlerkandidat Peer Steinbrück widerspricht dem Vorschlag des Parteichefs, die Geschwindigkeit auf deutschen Autobahnen auf 120 km/h zu begrenzen. Und Sigmar Gabriel rudert ganz schnell zurück.

Berlin. Es dauerte nur wenige Stunden, bis Peer Steinbrück eine bedrohliche Debatte zu beenden versuchte. Eben erst hatte der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel – zum Erstaunen all jener, die ihn kennen – für ein Tempolimit auf Autobahnen von 120 Kilometer pro Stunde plädiert; kurz darauf wandte sich Steinbrück gegen dieses Ansinnen. Getreu seinem Anspruch, stets Klartext zu sprechen, sagte der SPD-Kanzlerkandidat, er stehe „im Widerspruch“ zu Gabriel, und er halte diese Debatte für „nicht sinnvoll“. Es handele sich um eine Diskussion, „die uns seit 20 Jahren beschäftigt. Ich sehe keine Veranlassung, sie zu aktivieren.“ Mit seiner Intervention beanspruchte Steinbrück zum ersten Mal jene „Beinfreiheit“, die er vor gut einem halben Jahr gegenüber der eigenen Partei eingefordert hatte.

Die deutliche Distanzierung von Gabriels Vorstoß kommt nach mehreren pannenfreien Wochen Steinbrücks, und sie beeindruckte seinen Troika-Freund so sehr, dass dieser sogleich zurückruderte. „Bei der Bundestagswahl geht es um andere Fragen als das Tempolimit. Das gilt sowieso schon auf den meisten Strecken“, sagte Gabriel der „Bild“-Zeitung und fügte hinzu: „Sicherheit braucht Vorfahrt, mehr wollte ich nicht sagen.“ Dies indes hatte am Vortag noch ganz anders geklungen. „Tempo 120 auf der Autobahn halte ich für sinnvoll, weil alle Unfallstatistiken zeigen, dass damit die Zahl der schweren Unfälle und der Todesfälle sinkt“, hatte Gabriel in einem Interview mit der „Rheinischen Post“ verkündet.

In der eigenen Partei war Gabriels Äußerung auf Unverständnis gestoßen. In der Lage-Besprechung am Mittwochmorgen im Willy-Brandt-Haus kam das Erstaunen über jenen neuerlichen Einfall des stets ideenreichen Parteivorsitzenden zur Sprache. Das war noch vor dem Machtwort Steinbrücks. Öffentlich mochten sich zu diesem Zeitpunkt führende Sozialdemokraten zu der Sache nicht äußern. Sie galt in zweifacher Hinsicht als heikel: Zum einen lag eine Meinungsdifferenz zwischen Gabriel und Steinbrück nahe. Zum anderen ist der Ruf nach Geschwindigkeitsbegrenzungen in weiten Teilen der Autofahrer-Nation Deutschland noch immer unpopulär und überdies geeignet, der SPD im Wahlkampf zu schaden. Bei aller diplomatischen Mühe ließen es SPD-Landespolitiker doch deutlich erkennen, wie wenig sie von Gabriels Idee hielten. Derart äußerten sich NRW-Verkehrsminister Michael Groschek und der baden-württembergische Finanz- und Wirtschaftsminister Nils Schmid. In Berliner SPD-Kreisen war von einer „bescheuerten Idee“ die Rede.

Auch Nahles reagiert fassunglos

Gabriels Äußerungen kamen selbst für jene, die um seine Flexibilität wissen, überraschend. Als Befürworter eines Tempolimits war er bislang nicht aufgefallen. Das von ihm einst geführte Bundesumweltministerium hatte derlei Pläne abgelehnt. Im Regierungsprogramm fehlt eine solche Passage (wie die Begriffe „Tempolimit“ und „Geschwindigkeitsbegrenzung“ schon in den rot-grünen Koalitionsverträgen von 1998 und 2002 nicht einmal auftauchten). Das vom Hamburger SPD-Parteitag 2007 beschlossene Tempolimit von 130 Stundenkilometern hatte Gabriel nicht mitgetragen. Über solche prohibitiven Tendenzen, meist verfochten vom linken Flügel der SPD, mokiert sich Gabriel gern – oft bissig, zuweilen lautstark. Eine Pikanterie kommt hinzu: Erst kürzlich hatte SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles recht offen über ihr Vorliebe für flottes Fahren berichtet. „Wenn ich eine freie Strecke habe, wie zum Beispiel auf der A48, fahre ich schon gerne schnell“, sagte Nahles kürzlich der „FAS“. Gefragt, ob dies für eine Frau vom linken SPD-Flügel nicht politisch unkorrekt sei, antwortete sie: „Das ist mir so was von egal.“

Entsprechend fassungslos soll auch Nahles nun über Gabriel gewesen sein. Mit Steinbrück arbeitet Nahles, anders als mit Gabriel, inzwischen vertrauensvoll zusammen. Steinbrück schätzt die Verlässlichkeit der Generalsekretärin, und er weiß um ihre Verankerung in der Partei. Seitdem Nahles den nahezu gesamten Bundestagswahlkampf der SPD organisatorisch verantwortet, hat sie an Autorität im eigenen Hause gewonnen. „Nahles vertritt klare Meinungen, sie macht klare Ansagen“, heißt es in der Partei. Im Willy-Brandt-Haus sei sie klar „die Chefin“. Gabriel, der Nahles öffentlich stets lobt, weiß um deren starke Stellung. Sollte die SPD nach der Bundestagswahl Regierungsverantwortung übernehmen, ist Nahles als Ministerin – vermutlich für Arbeit und Soziales – „gesetzt“.

Längst geht es den führenden Köpfen in der Bundes-SPD um ihre eigene politische Zukunft nach dem 22. September. Während die Perspektiven von Steinbrück – er wird der vierte sozialdemokratische Bundeskanzler, oder er tritt von der politischen Bühne ab – eindeutig sind, sind diese für Gabriel, Nahles und Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier völlig ungewiss. Zudem hängen sie von der machtpolitischen Konstellation ab, die womöglich noch Tage oder Wochen nach der Wahl ungeklärt ist. Gabriel übernähme neben dem Parteivorsitz gerne die Fraktion, in deren Reihen die Zahl seiner Fans aber begrenzt ist. Außerdem hofft mancher in der Partei, zumal in den Ländern, auf das Ende des SPD-Vorsitzenden Gabriel. Bei einer Wahlniederlage (Ergebnis unter 25 Prozent, Verbleib in der Opposition) würde rasch der Ruf nach Hannelore Kraft als neuer Parteichefin laut. Sollte die NRW-Ministerpräsidentin nur den Finger heben, könnte sie mit ihrer Wahl rechnen. Sie wäre die erste Frau an der Spitze der SPD. Im Falle einer Kanzlerschaft Steinbrücks oder einem achtbaren Ergebnis (bei 30 Prozent, Regierungsbeteiligung) könnte und dürfte Gabriel wohl den Vorsitz behalten. In einem solchen Szenario wiederum müsste Steinmeier nur seine erneute Kandidatur für den Fraktionsvorsitz anmelden (am besten wie 2009 noch am recht frühen Wahlabend), er würde gewählt.

Über die Besetzung möglicher SPD-geführter Ministerien könnte das „Kompetenzteam“ Steinbrücks Hinweise geben, das in den nächsten Wochen vorgestellt wird. Womöglich wird dies noch im Mai geschehen, rund um den 150. Geburtstag der SPD. Jeweils fünf Männer und Frauen sollen dem Team angehören, darunter Köpfe aus den Ländern und mindestens eine Überraschung von außerhalb des politischen Binnenbetriebes.

Die immer wieder verkündete Absicht der SPD, eine rot-grüne Regierung bilden zu wollen, wird derweil durch wechselseitige Mäkeleien und Überbietungswettbewerbe (siehe: Tempolimit) relativiert. Steinbrücks Kontakte zu den Grünen sind nach wie vor ausbaufähig. Um den gemeinsamen Machtwillen zu demonstrieren, laden beide Parteien am 5. Juni zu einem Sommerfest. Die grünen Spitzenkandidaten und der SPD-Kanzlerkandidat, so heißt es in der Einladung, „nehmen daran selbstverständlich teil“.