Der Bundespräsident empfängt in Berlin Familien der Neonazi-Mordopfer. Mehrere Angehörige hatten Treffen aus Protest abgesagt.

Hamburg/Berlin. Bundespräsident Joachim Gauck hat den Angehörigen der Neonazi-Mordopfer umfassende Aufklärung zugesichert. Bei einem Treffen am Montag im Schloss Bellevue sagte Gauck, Deutschland dürfe nicht vergessen, was geschehen ist. Laut Redemanuskript versprach er: „Ich will mithelfen, dass Ihr Leid weiter wahrgenommen und anerkannt wird. Und dass aufgeklärt wird, wo es Fehler und Versäumnisse gegeben hat, dass darüber gesprochen und wenn nötig auch gestritten wird, was wir daraus lernen müssen!“

Dem Neonazi-Trio werden zehn Morde zwischen den Jahren 2000 und 2007 zugerechnet, einer davon in Hessen. 2006 war der türkischstämmige Halit Yozgat in seinem Internetcafé in Kassel erschossen worden – vermutlich von Rechtsterroristen des NSU.

Gauck erinnerte in seiner Begrüßung daran, dass sein Vorgänger Christian Wulff bereits im November 2011 Angehörige der Ermordeten ins Schloss Bellevue eingeladen hat. Damals war gerade bekanntgeworden, dass die Morde und Anschläge an neun türkisch- und griechischstämmigen Kleinunternehmern sowie an einer Polizistin auf die Zwickauer Neonazi-Terrorzelle zurückgingen. Viele Jahre lang war der rechtsterroristische Hintergrund aber nicht aufgedeckt worden.

Gauck lobte vor den Angehörigen die Arbeit des Bundestags-Untersuchungsausschusses und der Ombudsfrau Barbara John, die bei dem Treffen mit etwa 70 Angehörigen am Montag dabei war. John habe allen Hinterbliebenen die Gewissheit und das Gefühl gegeben, nicht allein zu sein.

„Der Wille zur Aufklärung ist da“, meinte Gauck. Allerdings gebe es weiter Grund, beunruhigt zu sein. „Warum hat es solche Fehler und Fehlentscheidungen in den Ermittlungen gegeben“, fragte Gauck. Zurecht warteten die Angehörigen auf Antworten – „mit steigender Ungeduld, weil doch über ein Jahr vergangen ist“. Erste Konsequenzen seien gezogen worden, auch für eine bessere Zusammenarbeit von Verfassungsschutz und Polizei, von Bund und Ländern. „Auch ich war erschrocken darüber, welche Fehler in mancher Behörde möglich waren.“

Weiter sagte der Bundespräsident: „Alle Menschen in unserem Land müssen darauf bauen können, dass unser Staat sie schützt. Und darum brauchen wir einen funktionierenden, einen starken, einen wehrhaften Staat. Ich danke all denen, die diesen Staat, zum Beispiel als Polizisten, auch unter Einsatz ihres Lebens schützen.“

Es wäre aber zu kurz gedacht, nur nach dem Staat zu rufen, auch Reformen allein genügten nicht. „Es geht um die Frage, wie im Alltag verhindert werden kann, dass sich Vorurteile und Ressentiments einnisten. Es geht um andere Haltungen, in unseren Behörden und Institutionen, aber auch bei vielen Bürgern“, sagte Gauck.

Mehrere Angehörige der NSU-Mordopfer hatten Gaucks Einladung ausgeschlagen – darunter auch die Schwester des Hamburger NSU-Opfers Süleyman Tasköprü. In einem Brief an den Bundespräsidenten, der dem Hamburger Abendblatt vorliegt, begründet Aysen Taskörpü ihre Absage: Vor allem kritisiert die 38 Jahre alte Schwester, dass Gauck nur die Angehörigen, aber nicht deren Anwälte nach Berlin eingeladen habe. Allein fühle sie sich dem Besuch jedoch „nicht gewachsen“, schreibt Tasköprü. Das Bundespräsidialamt hatte nach eigenen Angaben die Angehörigen gebeten, von der Begleitung durch Rechtsanwälte als vertraute Personen abzusehen, um die vertrauliche Atmosphäre zu gewährleisten.

Doch die Schwester des 2001 ermordeten Süleyman Tasköprü sagt nicht nur ab – sie erhebt auch Vorwürfe gegen Gauck. „Ihnen, Herr Bundespräsident, ist mein Bruder doch nur wichtig, weil der NSU ein politisches Thema in Deutschland ist.“ Und Tasköprü fragt: „Was wollen Sie an unserem Leid ändern? Glauben Sie, es hilft mir, wenn Sie betroffen sind?" Stattdessen fordert die 38-Jährige mehr als ein Jahr nach Bekanntwerden der Mordserie durch Neonazis endlich Antworten: „Wer sind die Leute hinter dem NSU? Was hatte der deutsche Staat damit zu tun? Wer hat die Akten vernichtet und warum?"

2001 soll die Terrorzelle des selbsternannten „Nationalsozialistischen Untergrunds“ den türkischen Kleinunternehmer Süleyman Tasköprü in seinem Geschäft in Bahrenfeld mit zwei gezielten Kopfschüssen ermordet haben. Erstmals hat mit dem sehr emotionalen Brief nun eine Angehörige des Hamburger Mordopfers von der Zeit nach dem Mord und die Angst der Familie nach der Tat durch die Rechtsterroristen erzählt. An dem Tag, als die NSU-Terrorserie bekannt wurde, sei auch Tasköprüs Großmutter gestorben. „Ich habe in dieser Nacht nicht geschlafen, ich musste mich ständig übergeben. Am nächsten Tag hätte ich Frühdienst gehabt, ich konnte nicht zur Arbeit gehen. Das Telefon klingelte ununterbrochen, Presse und Fernsehen wollten Interviews, ich wollte nur meine Ruhe“, schreibt die Schwester.

Doch nicht nur Aysen Tasköprü aus Hamburg hat das Treffen mit Gauck an diesem Montag abgesagt. Wie der MDR berichtet, haben weitere Angehörige die Einladung ausgeschlagen. Der Münchner Anwalt Yavuz Narin teilte mit, dass seine Mandantinnen nicht nach Berlin reisen werden. In Anwesenheit von mehreren Dutzend Hinterbliebenen habe man keinerlei Möglichkeit, sich mit dem Bundespräsidenten detailliert auszutauschen, hieß es zur Begründung.

Die Ombudsfrau der Bundesregierung für die Hinterbliebenen der NSU-Opfer, Barbara John, zeigt Verständnis für die harte Kritik der Angehörigen an den Ermittlungsbehörden. „Die Hinterbliebenen haben jedes Recht, die von Fehlern strotzende Arbeit der Ermittler zu kritisieren und die politische Elite um Antworten zu bitten“, sagte John den Dortmunder „Ruhr Nachrichten“.

In den Jahren 2000 bis 2007 soll der NSU eine Polizistin, acht türkische und einen griechischen Kleinunternehmer ermordet haben. Bis zum Auffliegen der mutmaßlichen rechtsextremistischen Täter im November 2011 ermittelte die Polizei vor allem im Umfeld der Familien, suchte Hinweise auf die Mordserie im Drogenmilieu oder der politischen kurdischen Szene. Die meisten Medien sprachen in dieser Zeit nur lapidar von „Döner-Morden“. Vor allem die Angehörigen der Ermordeten wurden über Jahre immer wieder verhört und auch beschuldigt. Heute ist die Mordserie des NSU auch die Geschichte eines großen Staatsversagens. Polizei und Verfassungsschutz fischten nicht nur im Trüben, sie blockierten sich teilweise gegenseitig, gingen Hinweisen auf ein rechtsextremes Motiv der Tat nicht entschlossen nach.