Der Wirtschaftsweise Bofinger will so die Altersbezüge absichern. Arbeitsministerin Ursula von der Leyen setzt auf mehr private Vorsorge.

Hamburg. Die Zahlen sind verwirrend: Die Deutschen arbeiten wieder länger - und doch nimmt ein immer größerer Anteil der Beschäftigten finanzielle Einbußen in Kauf, weil die Menschen vor Erreichen der Altersgrenze in Rente gehen. Jeder Zweite verabschiedet sich mit Abschlägen in den Ruhestand. Sie betragen derzeit knapp 110 Euro pro Monat.

Der scheinbare Widerspruch lässt sich so auflösen: Vor wenigen Jahren gingen die Deutschen noch früher in Rente. Oder sie mussten es, weil viele Arbeitgeber sich mit finanziellen Anreizen der Arbeitsämter von Hunderttausenden der über 60-Jährigen trennen konnten. So rechnete manches Unternehmen seiner silbernen Arbeitnehmergeneration vor, dass es doch ein gutes Geschäft sei, mit gut 60 den Job an den Nagel zu hängen: Ein goldener Handschlag vom Arbeitgeber, womöglich Altersteilzeit plus zwei Jahre Arbeitslosengeld in Höhe von 60 Prozent des letzten Lohns - fertig war der Brückenplan bis zur Rente.

So wurden mit staatlicher Hilfe viele in den Ruhestand verabschiedet. Unternehmen haben mutmaßlich teure Mitarbeiter eingespart. Die wiederum gingen schlimmstenfalls mit kleinen Einbußen aber weitaus früher in ihren Lebensabend. Die Hartz-Reformen und weitere Regel-Verschärfungen am Arbeitsmarkt haben diese Praxis gestoppt.

Otto Normalarbeiter geht heute wieder im Schnitt mit 63,5 Jahren in die Altersrente, so spät wie seit den 70er-Jahren nicht mehr (1970: 64,3 Jahre). Der Trend zur Frühverrentung in den 80ern und 90ern scheint aufgehalten. Der Anteil der über 60-Jährigen im Job steigt. Doch nach Ansicht der SPD noch zu langsam.

So wollen die Sozialdemokraten die selbst von ihnen mit verabschiedete Rente mit 67 aussetzen, bis mindestens 50 Prozent der 60- bis 64-Jährigen sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Das sieht das SPD-Konzept der Solidarrente vor, das bei der Bundestagswahl 2013 gegen die Lebensleistungsrente der CDU um die Gunst der Wähler buhlt.

SPD wie Union wollen im Kampf gegen eine drohende Altersarmut die private Vorsorge stärken: die Union vor allem über Riester-Rente, die Sozialdemokraten mit Anreizen für eine betriebliche Vorsorge. Der Bundesverband der Rentenberater kritisierte: "Sowohl das Betriebsrentenmodell der SPD als auch die Zuschussrente der Regierung verschiebt die Altersvorsorge von der gesetzlichen Rente hin zur privaten Vorsorge." Präsident Martin Reißig sagte über die Pläne der Arbeitsministerin Ursula von der Leyen: "Die Einführung der Lebensleistungsrente wird zu Mehrbelastungen führen, die von den künftigen Steuerzahlern und auch von den Beitragszahlern finanziert werden müssten."

Von der Leyens Haus verteidigte die Anhebung des Renteneintrittsalters und die geplanten Reformen. Dadurch stabilisiere sich die Rentenkasse finanziell, die Rente werde fit für die Zukunft, sagte ein Sprecher. Dass die Neurentner Abschläge hinnehmen, sei klarem Kalkül geschuldet. In vielen Haushalten werde gerechnet, auf welchen Monatsbetrag sich gesetzliche, private Rente und Erspartes summieren, um früher in Rente gehen zu können.

Wegen des wachsenden Anteils an privater Vorsorge im Renten-Mix können sich immer mehr Ruheständler die Einbußen aus dem gesetzlichen Topf leisten. Rund acht von zehn Euro, die ein Durchschnitts-Rentnerhaushalt zur Verfügung hat, kommen aus der gesetzlichen Rente. Jeder Fünfte bezieht mehrere Renten gleichzeitig. So kommt es, dass es heutigen Rentnern vergleichsweise gut geht. Die Mehrheit der Senioren, heißt es in einer aktuellen Allensbach-Studie, sei glücklich und vermögend wie nie.

Das tröstet natürlich nicht die, die sich heute schon ausrechnen können, dass ihr Lohn zu nicht viel mehr als der Grundsicherung reichen wird. Die beträgt im Schnitt gut 800 Euro im Monat.

Das gesetzliche Rentenniveau darf von heute 50 Prozent auf 43 Prozent vom Durchschnittslohn sinken. Aufgefangen werden soll der Verlust durch private Vorsorge. Die können oder wollen sich viele nicht leisten - und die Riester-Rente ist auch deshalb in Verruf geraten, weil die Zinsen an den Kapitalmärkten wegen der Euro-Krise extrem niedrig sind.

Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger plädierte bei "Spiegel Online" für eine Stärkung der gesetzlichen Rente. "Es war ein Fehler, dass wir in Deutschland jahrelang so massiv auf den Ausbau der privaten Altersvorsorge gesetzt haben", so Bofinger. "Das Geld muss nicht an den Finanzmärkten angelegt werden wie bei der privaten Vorsorge." Und für jeden Euro auf der hohen Kante schwinde der Ertrag: "Die Deutschen sparen sich zu Tode - und bekommen immer weniger dafür."

Bofinger würde der deutschen Rentenkasse aus Bismarcks Tagen sogar Verfassungsrang einräumen: "Die Menschen könnten sicher sein, dass ihre Ansprüche nicht irgendwann vom Bundestag abgesenkt werden, nur weil die Regierung gerade Geld braucht."