Deutschland hat kein gültiges Wahlrecht für Bundestagswahlen mehr. BVG erklärte reformiertes Bundeswahlgesetz für verfassungswidrig.

Berlin. Juristen wird bisweilen vorgeworfen, ihre Sprache sei durchzogen von Verklausulierungen und für den Normalbürger wenig verständlich. Andreas Voßkuhle trat gestern den Gegenbeweis an. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts formulierte seine Urteilbegründung zum Wahlrecht unmissverständlich als Ohrfeige für Schwarz-Gelb: "Trotz einer großzügig bemessenen dreijährigen Frist für den Wahlgesetzgeber, eine verfassungsgemäße Neuregelung zu treffen, ist das Ergebnis - das ist übereinstimmende Auffassung im Senat - ernüchternd."

Was bedeutet das Urteil?

Die Wahlrechtsreform, die Union und FDP gegen den Widerstand der Opposition im Bundestag verabschiedet haben, ist ungültig. Und zwar ab sofort. Deutschland hat damit kein gültiges Wahlrecht für Bundestagswahlen. Angesichts der Vorgeschichte des neuen Wahlrechts sehe der Senat keine Möglichkeit, den verfassungswidrigen Zustand erneut für eine Übergangszeit zu akzeptieren, stellte Voßkuhle klar.

+++ Verfassungsgericht kippt Bundestags-Wahlrecht +++

Warum mussten die Richter eingreifen?

Schon 2008 hatten die Richter eine Reform verlangt und die Frist für Juli 2011 festgesetzt. Doch erst im Dezember drückte die schwarz-gelbe Koalition ihre Reform durch den Bundestag. Jetzt entschied Karlsruhe über Normenkontrollklagen der Bundestagsfraktionen von SPD und Grünen, eine Organklage der Grünen und eine von 3063 Bürgern erhobene Massenbeschwerde.

In der Urteilsschrift, die selbst bei kleiner Schriftgröße noch ausgedruckte 29 Seiten umfasst, steht auf Seite 13 der entscheidende Grund für Voßkuhles Kritik. Das Sitzzuteilungsverfahren verletze die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl und auch die Chancengleichheit der Parteien.

Was wurde genau beanstandet?

Zum einen kritisierte Karlsruhe die Überhangmandate. Sie entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate erringt, als ihr nach dem Zweitstimmenanteil Sitze zustehen. Der Bundestag wird dadurch größer - nach der Bundestagswahl 2009 entstand die Rekordzahl von 24 Überhangmandaten, die alle an CDU/CSU gingen. Zum anderen forderten die Richter die Korrektur des negativen Stimmengewichts, durch das eine Partei über die Umrechnungsregeln am Ende trotz eines Stimmenplus weniger Sitze im Bundestag bekommen kann. Der Wähler kann so nicht sicher sein, ob sich seine Stimme für eine Partei auch positiv auswirkt.

Drittens verlangen die Richter einen neuen Umgang mit den sogenannten Reststimmen. Sie entstehen, wenn die rechnerische Umlegung von Zweitstimmen einmal nicht glatt aufgeht. Hier sagt das Wahlrecht: Ab 0,5 wird aufgerundet und es gibt einen Extrasitz. Was unter 0,5 ist, wird abgerundet, die Reststimmen verfallen. Schwarz-Gelb wollte diese Reststimmen bundesweit zusammenzählen, um so doch ein zusätzliches Mandat zu schaffen.

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Wie hat Berlin reagiert?

SPD und Grüne nutzten das Urteil zur Generalabrechnung: Die Koalition habe damit die Quittung dafür bekommen, "dass sie das Wahlrecht als Machtrecht missbraucht hat", sagte der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Thomas Oppermann. Grünen-Chefin Claudia Roth interpretierte das Urteil als klare Niederlage für Union und FDP. "Die Arroganz der Macht hat eine deftige Klatsche bekommen", sagte sie dem Abendblatt. Es sei eine Schande für den demokratischen Rechtsstaat, "wenn Teile der Legislative - zu dieser gehören die schwarz-gelben Fraktionen ja auch - das Wahlrecht zu ihrem eigenen Vorteil beugen wollen". Roth betonte, das Wahlrecht dürfe kein Feld für Parteienpolitik sein, sondern müsse nach dem hehren Ziel der Gleichheit jeder Stimme gestaltet werden. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) kritisierte indirekt das Verfahren bei der Reform und forderte eine fraktionsübergreifende Lösung.

Was muss die Politik jetzt tun?

Die Parteien werden spätestens nach der Sommerpause beginnen, ein Gesetz zu schreiben - immerhin ist schon in einem Jahr Bundestagswahl. Dass die Reform dieses Mal parteienübergreifend verabschiedet werden soll, wurde aus Union und FDP bereits signalisiert. Die Stoßrichtung der Reform-Reform ist vorgegeben: Karlsruhe setzte zum einen eine "zulässige Höchstgrenze" von 15 Überhangmandaten fest. Das negative Stimmgewicht wiederum entfällt, wenn den Bundesländern von vornherein so viele Sitze im Bundestag zugeteilt werden, wie das Land Wahlberechtigte oder Einwohner hat. Bislang ist das Sitzkontingent an die Wahlbeteiligung gebunden. Für die Reststimmenverwertung muss ein neues Rechenverfahren gefunden werden.

Was passiert bei plötzlicher Neuwahl?

Spätestens am 27. Oktober 2013 wird der nächste Bundestag gewählt. Dann muss das neue Gesetz verfassungskonform stehen. Sollte die Regierung früher auseinanderbrechen, würden die Parteien eilig ein neues Wahlrecht zusammenzimmern, in den Bundestag einbringen und die Bundestagswahl damit vollziehen. Sollte auch diese Reform in Karlsruhe landen und für ungültig erklärt werden, wäre möglicherweise auch die Wahl ungültig. Karlsruhe könnte theoretisch aber auch ohne Bundestagszustimmung ein neues Wahlrecht anordnen, falls sich die Fraktionen nicht rechtzeitig einigen.