Karlsruhe verwirft Wahlrecht. Parteien sollten auf Argumente statt auf Tricks vertrauen

Warum etwas einfach gestalten, wenn es auch kompliziert geht? Das scheint eine der Grundregeln der deutschen Politik zu sein. Das gilt für das Steuerrecht, das selbst Fachleute nicht mehr durchblicken und über dessen Vereinfachung ebenso lange wie folgenlos debattiert wird. Und es gilt auch für das Wahlrecht. Hier hat das Bundesverfassungsgericht gestern allerdings den Diskussionszeitraum deutlich eingegrenzt: Das Wahlrecht in seiner jetzigen Form ist in Teilen verfassungswidrig. Da spätestens im Oktober 2013 die nächste Bundestagswahl ansteht, muss es bis dahin grundgesetzkonform geändert werden. Besser wäre deutlich schneller. Vorgezogene Neuwahlen können mitunter ganz plötzlich ausgerufen werden - siehe Gerhard Schröder 2005. Und auch die brauchen natürlich eine wasserdichte gesetzliche Grundlage. Das Wahlrecht ist schließlich eine Säule der Demokratie.

Als Argument für immer kompliziertere Lösungen gilt meist das Streben nach Gerechtigkeit. Die perfekte und alle zufriedenstellende Gerechtigkeit gibt es aber nicht. Weder im Steuerrecht noch im Wahlsystem. Das personalisierte Verhältniswahlrecht, um das uns zu Recht viele Länder beneiden, ist von Natur aus schon nicht ganz einfach. Das Entstehen von Überhangmandaten ist ihm immanent. Allerdings haben die Richter noch einmal darauf hingewiesen, dass das Hauptwort Verhältniswahlrecht ist, dessen Ergebnis also nicht durch die Wahl der Direktkandidaten per Erststimme verzerrt werden darf. Wenn bei der weiteren Verrechnung der Überhangmandate dann noch solch absurde Effekte wie das negative Stimmgewicht entstehen, eine Partei also trotz mehr Stimmen weniger Mandate bekommt, wird die eigentliche Intention des Wahlrechts ganz ad absurdum geführt. Um das zu erkennen, hätten Union und FDP, die für den jetzigen Zustand des Wahlrechts verantwortlich sind und schon drei Jahre an einer Pseudo-Reform gebastelt hatten, keinen Richterspruch aus Karlsruhe benötigen dürfen.

Es drängt sich daher der Verdacht auf, dass es außer um Gerechtigkeit auch um vermeintliche Vorteile aus den beanstandeten Auszähl- und Verrechnungsverfahren ging. Überhangmandate kommen meist den großen Parteien zugute. Die Union profitierte besonders davon. Bei der Bundestagswahl im September 2009 entfielen alle 24 auf sie. Wer so vom Wahlrechtsglück begünstigt scheint, findet dann auch spitzfindige Argumente, warum etwas so sein müsse, wie es nun einmal mithilfe der eigenen Mehrheit geregelt worden war. Nach einer Rechnung des Bundestages wäre die Bildung der schwarz-gelben Koalition allerdings auch ohne Überhangmandate nicht gefährdet gewesen.

Die Arabesken des Wahlrechts waren also gar kein entscheidender Vorteil für deren Verfechter, vielleicht waren sie ein kleiner Nachteil für die Konkurrenz. Auf jeden Fall hat das jahrelange Theater um dessen Neugestaltung dem Ansehen der Politik geschadet und die Motivation der Bürger, ihr Wahlrecht auch wahrzunehmen, bestimmt nicht beflügelt. Nachdem drei Jahre seit dem ersten Karlsruher Urteil im Parteienstreit vertan wurden, ist jetzt eine qualitativ hochwertige Schnellreparatur nötig. Das sollte - anders als bei anderen höchstrichterlichen Einsprüchen, etwa bei der Euro-Rettung, den Asylbewerberleistungen, Hartz-IV-Sätzen, Pendlerpauschalen, Sicherheitsverwahrten oder Lauschangriffen - möglich sein. Schließlich geht es um das ureigenste Feld der Politik und der Parteien und nicht zuletzt um das Funktionieren von Staat und Demokratie.

Vor allem sollten die Parteien in Wahlkämpfen mehr auf die Kraft der eigenen Argumente und die Ausstrahlung ihrer Kandidaten bauen als auf das Kleingedruckte in Wahlgesetzen. Das ist besser für die Wähler, die Demokratie, stärkt das Selbstbewusstsein der Kandidaten - und sorgt für ein ruhiges Gewissen auch nach Auszählung aller Stimmen.