Bericht zur Einheit würdigt aber Fortschritte der Wirtschaft in den neuen Ländern

Hamburg/Berlin. Manchmal reicht eine Zugfahrt, um 21 Jahre deutsche Einheit zusammenzufassen. Wer in Hamburg den Zug nach Berlin besteigt, der erblickt bald weite Felder, auf denen mehr Windräder als Kühe stehen. Er fährt an winzigen, oft baufälligen Dörfern vorbei, in deren Gassen sich nur wenige, meist alte Menschen bewegen. Renovierte Hausfassaden und neue Firmenhallen bleiben die Ausnahme. Der Fahrgast muss nicht aussteigen, um zu begreifen: Dem östlichen Teil Deutschlands mangelt es zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung an Geld, an Arbeitsplätzen und an Menschen.

Demografischer Wandel, Fachkräftemangel, zerfallende Gemeinschaften - Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) kennt die Probleme, mit denen die Menschen und Unternehmen in den ostdeutschen Bundesländern seit Jahren kämpfen. Jedes Jahr verfasst sein Ministerium einen Bericht über den aktuellen Zustand der deutschen Einheit - und mit jedem Jahr wachsen die Erwartungen der Deutschen, dass ihr Land endlich auch wirtschaftlich und sozial zusammenwächst. Immer größer werden die Sorgen, dass der Osten auf immer auf die Hilfe des Westens angewiesen bleiben wird. Allein zwischen 1991 und 2009 betrug diese Hilfe 1,3 Billionen Euro.

Glaubt man dem diesjährigen Jahresbericht, wird es mit dem Zusammenwachsen wohl noch einige Zeit dauern. "Die noch bestehenden gesamtwirtschaftlichen Unterschiede bei der Wirtschaftskraft und am Arbeitsmarkt erfordern auch in den nächsten Jahren noch eine überproportionale Beteiligung des Bundes an Maßnahmen der Struktur- und Wirtschaftsförderung in den ostdeutschen Ländern", heißt es in dem 137 Seiten starken Werk. Für dessen Vorstellung hatte Friedrich ein historisches Datum gewählt: Gestern, am 9. November gedachte die Republik nicht nur der Reichspogromnacht von 1938, sondern auch des Falls der Mauer vor 22 Jahren.

Ein besonderes Problem stellt laut Studie die Bevölkerungsentwicklung dar: Zogen anfangs Hunderttausende Ostdeutsche aus ihrer Heimat weg, macht sich mittlerweile der starke Rückgang der Geburtenrate in den Neunzigerjahren bemerkbar. Nach Einschätzung des Innenministeriums werden daher die neuen Länder bis 2050 die Hälfte ihrer Bevölkerung von 1991 verloren haben - mit "weitreichenden Auswirkungen auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens". Es werde immer schwieriger werden, wohnortnah Angebote wie Kitas, Schulen und Pflegeeinrichtungen zu garantieren. Auch das Angebot an Dienstleistungen werde eher abnehmen. Gleichzeitig führten schrumpfende Jahrgänge und die höheren Löhne im Westen dazu, dass in vielen Regionen Fachkräfte fehlten.

Dennoch demonstrierte Friedrich gestern Optimismus: Die ostdeutschen Länder hätten wirtschaftlich nochmals zugelegt und den Abstand zu Westdeutschland weiter verringert. Die wirtschaftliche Entwicklung im Osten habe sich "ungebrochen positiv" weiterentwickelt. Die neuen Länder seien stärker aus der Wirtschaftskrise herausgekommen, als sie 2008 hineingegangen seien. So gebe es im Osten inzwischen mehr als 5,3 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Wachstumsimpulse erhofft sich die Regierung von den erneuerbaren Energien: 85 000 Menschen arbeiten im Osten in dieser Branche, Tendenz steigend.

Auch die Produktivität ist weiter gestiegen - liegt allerdings noch bei 80 Prozent des westdeutschen Niveaus. Das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner kletterte mittlerweile von ursprünglich 43 auf 73 Prozent.

Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsident Erwin Sellering (SPD) sagte dem Abendblatt, er stimme dem Jahresbericht in vielen Punkten zu: "Die ostdeutschen Länder sind deutlich vorangekommen. Aber sie haben immer noch Rückstand. Wir haben weniger Wirtschaftskraft, eine höhere Arbeitslosigkeit und niedrigere Einkommen als die westdeutschen Länder." Es sei daher gut, dass sich Friedrich bei der Vorstellung des Berichts klar zum Solidarpakt II bekannt habe.

In diesem Pakt verteilt der Bund zwischen 2005 und 2019 insgesamt 156 Milliarden Euro allein für den Ausbau Ost. "Die ostdeutschen Länder brauchen bis Ende 2019 eine besondere Unterstützung. Wir müssen näher an die westdeutschen Länder heran", sagte Sellering. Er hoffe, dass damit auch die von CSU und FDP immer wieder angeheizte Debatte um den Solidaritätszuschlag ein Ende habe. Nötig sei zudem eine Anpassung der Renten in Ost und West.

Linken-Chefin Gesine Lötzsch warf Friedrich vor, er habe einen "Schönwetter-Bericht" vorgelegt. "Ostdeutschland ist der größte Niedriglohnsektor Europas", sagte Lötzsch. Nötig sei ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von zehn Euro pro Stunde.