Arbeitslosigkeit, Schulden und brennende Autos - trotzdem hat Bürgermeister Klaus Wowereit beste Chancen, die Wahl am Sonntag zu gewinnen.

Berlin. In diesen Tagen haben die Berliner einen Brief von Klaus Wowereit in ihren Postkästen. "Ich weiß", schreibt der Regierende Bürgermeister der Hauptstadt darin, "reich an Geld war Berlin nie, aber reich an Ideen, reich an Kreativität, reich an zupackenden, hart arbeitenden Menschen aus aller Welt, reich an Humor und reich an einer einzigartigen Kultur."

Ja, Wowereit ist ganz der Alte. Auch heute, nach zehn Jahren im Roten Rathaus, dem Regierungssitz, findet er noch immer dieselben lobenden, warmen und mitreißenden Worte, um seiner Stadt ein gutes Image zu verpassen und ihren 3,5 Millionen Einwohnern ein bisschen aus der Seele zu sprechen. Unter ihnen leben die meisten Arbeitslosen in der Bundesrepublik, nirgendwo sonst bekommen so viele Menschen Hartz IV, trotz aller Sparbemühungen ist ein ausgeglichener Haushalt weit entfernt. Und trotzdem strotzt Berlin vor Selbstbewusstsein. Wowereits alter Slogan "Arm, aber sexy" gilt auch heute noch - obwohl er ihn im Jahr 2011 so nicht mehr sagen würde. Dafür ist er ihm zu oft und sogar höchstrichterlich um die Bürgermeisterohren gehauen worden. Aber die Grundtendenz dieser Aussage, das zeigt Wowereits Wahlbrief, gilt für ihn heute nach wie vor.

+++ Wowereits Gegner +++

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+++ Klaus Wowereit: "Nichts gelernt aus der Geschichte" +++

Seit Wochen tourt Wowereit, 57, betont locker-flockig durch Berlins zwölf Bezirke und rührt so charmant wie möglich mit Plüschteddys, roten Rosen und massenweise Autogrammkarten die Werbetrommel. Und wo es passt, auch mit Berliner Akzent. Vor allem wirbt Wowereit dabei für Wowereit - und erst an zweiter Stelle für die SPD. "Berlin verstehen" lautet der Titel seiner Kampagne, und sie inszeniert ihn quasi als Ober-Versteher der Stadt. Zum Endspurt wurden überall riesige schwarz-weiße Wowereit-Konterfeis plakatiert. Ohne Namen, ohne Slogan. Nur ein kleines rotes SPD-Quadrat prangt in der oberen rechten Ecke. Es kommt also auf den Kandidaten an, nicht auf die Partei. Damit das auch wirklich jeder versteht, wurde vor einigen Tagen nachjustiert und in die untere linke Ecke ein Spruch geklebt: "Wer Wowereit will, muss SPD wählen."

Wie es aussieht, wird eine Mehrheit der Berliner am 18. September auch genau dieses tun. In den Umfragen liegt die SPD derzeit mit 32 Prozent vorn, dahinter folgt die CDU mit 21 Prozent, Grünen-Fraktionschefin Renate Künast, vor einigen Wochen noch als einzig ernsthafte Wowereit-Herausforderin gehandelt, liegt mit ihrer Partei auf dem dritten Platz mit 19,5 Prozent. Künast, das ist in den letzten Wochen deutlich geworden, hat in der Hauptstadt kein glückliches Händchen bewiesen. Zwar ist auch sie in ganz Berlin unterwegs, und selbst ihre Wahlplakate versprechen mit Slogans wie "Renate sorgt" oder "Renate arbeitet" einiges Engagement. Trotzdem ist es ihr nie so richtig gelungen, die Berliner auf jener menschlichen Ebene zu erreichen, auf der der SPD-Mann so viele Punkte macht. Bürgernähe ist ihre Sache nicht.

Nun ist es auch nicht so, dass es trotz aller Probleme das eine große, alles beherrschende Thema gegeben hätte, an dem sich die Parteien und ihre Kandidaten hätten abarbeiten können. Sicher, um die vielen brennenden Autos ging es hier und da, aber bis auf ein paar Diskussionen kam nicht viel dabei herum, und das Thema verpuffte. Über welche Teile der Stadt die Flugrouten beim künftigen Großflughafen verlaufen sollen oder ob die Stadtautobahn A100 verlängert wird, interessiert außerhalb der betroffenen Gebiete auch nur wenige. Geht es um die Wirtschaft, kann Wowereit trotz der Tatsache, dass Berlin als Paradebeispiel für schlechtes Haushalten gilt, wie auch in seinem Wahlbrief an die lieben "Berlinerinnen und Berliner" seine Erfolgsbilanz aufzählen: 118 000 neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze seit 2006, Bildung von der Kita bis zur Uni gebührenfrei, zudem sei es gelungen, "die Verschuldung Berlins zu handhaben und die Neuverschuldung radikal einzudämmen". 63,2 Milliarden Euro Schulden hat Berlin heute - vor zehn Jahren waren es jedoch noch 40 Milliarden Euro. Die Neuverschuldung wird 2011 jedoch 1,2 Milliarden Euro niedriger ausfallen als zunächst geplant. 2016 soll es ganz ohne neue Kredite gehen.

Nach zehn Jahren "Wowi" wünscht sich ein großer Teil der Berliner, dass im Grunde alles so bleibt, wie es ist. Über die Missstände und Probleme regt man sich kaum mehr auf. Dass die Mieten steigen, passt vor allem den Grünen und den Linken nicht - aber im Vergleich zu Hamburg zahlt man hier selbst in den angesagten Stadtteilen immer noch deutlich weniger. "Und das Wichtigste", schreibt Wowereit, "die SPD und ich wollen, dass Berlin zusammenhält und offen bleibt." Jeder soll sich wohlfühlen, Alter, Hautfarbe, Religion oder Herkunft sind egal. So etwas zieht natürlich in einer Stadt, in der die Toleranz der Einwohner so groß ist, dass Kritiker sie manchmal auch als kollektives Wegschauen interpretieren. Klar ist: Berlin könnte heterogener kaum sein. Wer in diesen Tagen in den Bezirk Marzahn-Hellersdorf kommt, findet zwischen den Plattenbauten viele Plakate der rechtsradikalen NPD. In Kreuzberg oder Friedrichshain, im deutlich links orientierten und studentischen Milieu, muss man lange nach einem Plakat der FDP suchen - ganz anders als in Berlin-Mitte. Vielleicht hat Wowereit deshalb mit seinem themenarmen Ein-Personen-Wahlkampf so viel Erfolg. Es gibt wegen der Inhaltsleere kaum etwas, womit er wo auch immer anecken könnte.

Wowereit wird sich wohl aussuchen können, mit wem er regieren will. Die Grünen haben sich so gut wie auf die SPD festgelegt, möglich wäre für die Sozialdemokraten aber auch ein Bündnis mit der CDU. Doch dies scheint angesichts der greifbaren Nähe zur Wunschkoalition ebenso unwahrscheinlich wie eine Fortsetzung des Bündnisses mit der Linken, die in den Umfragen auf elf Prozent abgesackt ist. Die einzig echte Überraschung in diesem Wahlkampf ist die Piratenpartei, die den Prognosen nach die Fünf-Prozent-Hürde meistern wird und damit zum ersten Mal in ein Landesparlament einzieht.

Für Wowereit wird sich nach alldem die Frage stellen, wo die Reise für ihn noch hingehen soll. SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles hat ihn kürzlich als "kanzlertauglich" bezeichnet, eingelassen hat er sich darauf jedoch nicht. Allerdings hat es schon einmal einen Bundeskanzler gegeben, der zuvor Bürgermeister Berlins war: Willy Brandt. Genau den Mann, den Wowereit sein Vorbild nennt.