Der Sozialdemokrat Erwin Sellering feiert seinen Wahlsieg in Mecklenburg-Vorpommern. CDU und Linke wollen nun mit der SPD regieren.

Schwerin. Es ist ein lauer, ruhiger Sommerabend in den Straßen von Schwerin. Nach einem verkaufsoffenen Sonntag leeren sich langsam die Gassen der Altstadt, nur die Schwalben lärmen noch am Himmel. Doch um 18.01 Uhr erschallt plötzlich aus dem versteckt gelegenen Restaurant Brinkama Jubel und Gekreische, das nach einigen "Ahs" und "Ohs" in rhythmisches Klatschen übergeht. Gerade eben sind die ersten Hochrechnungen zu den Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern über die Bildschirme geflimmert: Die SPD, so viel steht schon zu diesem Zeitpunkt fest, ist deutlicher Wahlsieger mit voraussichtlich knapp 37 Prozent. Die CDU ist auf etwa 24 Prozent abgerutscht, die Linke hat sich stabil gehalten, die FDP ist draußen.

Im Gastraum des Brinkama, in dem an diesem Abend die Sozialdemokraten ihre Wahlparty feiern, staut sich die letzte Sommerhitze. Die Temperatur passt zur Stimmung der anwesenden Genossen, auf zahlreichen Stirnen zeigen sich Schweißperlen, auf zahlreichen Mündern ein breites, zufriedenes Lächeln. Draußen im Hof steht Ingrid Schwarz-Linek, eine 72-Jährige mit silbernen Locken, und lächelt ebenfalls beseelt: "Das Ergebnis ist ganz großartig, außer das mit der NPD." Die Rechten haben den Wiedereinzug in den Landtag geschafft.

+++ Leitartikel: Dreifache Reifeprüfung +++

+++ Land der größten Kreise +++

Um 18.08 Uhr taucht der Mann auf, der den Genossen an diesem Abend die gute Laune geschenkt hat. "Ganz toll habt ihr das gemacht", ruft Erwin Sellering seinen Anhängern durchs Mikro zu. Er und seine Frau strahlen. "Das verspricht ein sehr schöner Abend zu werden", sagt Sellering - außer eben der Sache mit der NPD. Er verspricht, weiter für Arbeitsplätze zu kämpfen, sich für den Mindestlohn und gute Bildung einzusetzen - "wir sorgen dafür, dass niemand zurückgelassen wird". Auch in der Finanzpolitik, die ohne neue Schulden auskommen soll, wolle er Kurs halten. Dann macht sich der bisherige und künftige Ministerpräsident auf zu den großen Fernsehsendern, die vor dem Schweriner Schloss ihre großen Studio-Zelte aufgebaut haben. Doch vor lauter Gratulanten und Fernsehteams kommt er fast nicht vom Fleck.

Ohne Frage: Das Ergebnis ist Sellerings persönlicher Triumph. Der 61-Jährige ist nach dem Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz und nach dem Bremer Bürgermeister Jens Böhrnsen bundesweit der drittstärkste SPD-Landesfürst. Und zum ersten Mal ist der Regierungschef auch tatsächlich als Ministerpräsident gewählt worden. Ins Amt war Sellering im Oktober 2008 gekommen, indem er die Amtsgeschäfte von seinem sozialdemokratischen Vorgänger Harald Ringstorff übernahm.

1994 hatte der im westfälischen Sprockhövel geborene Jurist Sellering in Greifswald eine Stelle als Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht angetreten. Im selben Jahr trat er auch in die SPD ein. Sechs Jahre später stieg der Mann mit dem milden Lächeln zum Justizminister auf, weitere sechs Jahre später, also 2006, wurde er Sozialminister. 2007 schließlich rückte er als SPD-Landesvorsitzender auf, bis er schließlich zum Landesvater aufstieg.

Offensichtlich ist es Sellering in den drei Jahren seiner Regierungszeit gelungen, sich einen deutlichen Amtsbonus zu erarbeiten. Tatsächlich gelang es dem Westfalen, seine Herkunft als Wessi nie zu seiner Achillesferse werden zu lassen. Fast schon mantrahaft erklärte er immer wieder seinen Respekt vor den Lebensleistungen der Ostdeutschen. Mit Kritik an früheren Verhältnissen hält sich der Sozialdemokrat demonstrativ zurück. Konsequent vermeidet er es, die DDR als Unrechtsstaat zu bezeichnen. Ja, die Mauer sei unrecht gewesen, gab er im Abendblatt zu Protokoll, doch es sei "eine Abwertung der Lebensleistung vieler DDR-Bürger, das gesamte Leben in der DDR auf staatlich begangenes Unrecht zu verkürzen". Bei seinen Anhängern, die sich in und vor dem Brinkama versammelt haben, kommen solche Worte bestens an. "Sellering hat sich einfach wunderbar eingelebt", findet Schwarz-Linek.

Zu der Leisetreterei trieb den Regierungschef vermutlich nicht nur die Rücksichtnahme auf ostdeutsche Befindlichkeiten, sondern auch strategisches Kalkül. Denn während des gesamten Wahlkampfs hatte sich Sellering offengehalten, ob er wie bisher mit der CDU weitermachen oder - wie es sein Vorgänger jahrelang getan hatte - mit der Linken koalieren will. Die jedoch ist im Nordosten in der Frage der historischen Schuld der DDR und der Unrechtmäßigkeit des Mauerbaus tief gespalten. Auch an diesem Abend bleibt die eine große Frage offen: Mit wem werden die Sozialdemokraten künftig das Land regieren? Umfragen zufolge wünscht sich eine Mehrheit der Wähler eine Fortsetzung der rot-schwarzen Koalition, doch theoretisch könnte Sellering auch die rot-rote Karte ziehen. "Ich wäre nicht traurig darum", sagt die Schweriner SPD-Stadtvertreterin Gret-Doris Klemkow. "Die Zeit, als die SPD mit der Linken regierte, war nicht die schlechteste." Am liebsten aber, fügt Klemkow leise hinzu, wäre ihr eigentlich eine rot-grüne Koalition gewesen.

Tatsächlich haben die Grünen ein formidables Ergebnis erzielt und sind zum ersten Mal in den Landtag gezogen, doch für eine Regierungsmehrheit würde Rot-Grün wohl nicht ausreichen. Trotzdem lockte Grünen-Chef Cem Özdemir schon mal: Wenn Sellering einen echten Politikwechsel wolle, bekomme er den nur mit den Grünen.

Wenige Hundert Meter vom Landtag entfernt liegt das Restaurant Wallenstein, dort wollte eigentlich die CDU das Wahlergebnis feiern. Doch kurz nach den ersten Hochrechnungen findet man bei CDU-Mitgliedern wie Stefan Heidig eine Mischung aus Schock und Frustration vor. Heidig, ein blonder Lockenschopf im Blazer, schaut auf die Fernsehbildschirme und sagt: "Ich hatte mit 27 oder 28 Prozent gerechnet, aber das Ergebnis ist wirklich enttäuschend." Wie es dazu kommen konnte, versucht der bisherige Innenminister und CDU-Spitzenkandidat Lorenz Caffier im Fernsehinterview zu erklären. Caffier, nicht unbedingt für Charisma und Rhetorik berühmt, sagt betrübt, es sei ja immer so, dass der Seniorpartner - hier also die SPD - in einer Koalition die Punkte für die Regierungsarbeit einheimse. Für ihn blieb wenig, und nun wirbt er indirekt für eine Fortsetzung von Rot-Schwarz: "Die Koalition hat gut gearbeitet", betont der Christdemokrat. Das findet auch Heidig. "Eine Koalition mit der CDU bringt auch immer eine stabilere Mehrheit als ein Bündnis mit den Linken."

Bei diesen Linken, die sich an diesem Abend in der Schweriner "Ritterstube" versammelt haben, ist die Stimmung gedämpft, denn die Partei findet in Deutschlands Nordosten einfach nicht mehr zu ihrer einstigen Stärke zurück. Dennoch hat Parteichef Helmut Holter die Hoffnung noch nicht aufgegeben, mit ins Kabinett zu dürfen. Es liege jetzt an Erwin Sellering, appellierte der 58-jährige Holter. "Rot-Rot ist möglich, die Linke steht bereit", ruft er unter dem Beifall von mehr als 100 Parteimitgliedern und Sympathisanten. Die Einführung von Mindestlöhnen, modernere Schulen und eine bessere Finanzausstattung der Kommunen seien nur einige der gemeinsamen Ziele.

Doch Sellering macht es an diesem Abend bei der Koalitionsfrage wie in den ganzen Wochen des Wahlkampfs, der seiner Aussage nach "sehr schön" gewesen sei: Er lächelt freundlich. Und schweigt erst mal.

Bei der Wahl am Sonntag haben sich die bisherigen Landkreise Uecker-Randow und Ostvorpommern erneut als Hochburgen der rechtsextremen NPD herausgestellt. In den beiden Wahlbezirken des Uecker-Randow-Kreises kam die NPD nach dem offiziellen vorläufigen Ergebnis auf 15,4 beziehungsweise 12,0 Prozent der Stimmen. In Ostvorpommern erhielt die NPD 10,4 beziehungsweise 11,3 Prozent. Diese beiden Kreise bilden als Ergebnis der Kreisgebietsreform den Landkreis Vorpommern- Greifswald. Landesweit kamen die Rechtsextremisten auf 6,0 Prozent. Ihr schwächstes Ergebnis fuhr die NPD im Wahlkreis Rostock III mit 2,8 Prozent ein. Dort liegen Stadtteile, die überwiegend von Studenten und dem klassischen Bürgertum bewohnt werden.

Der Wiedereinzug der rechtsextremen NPD in den Landtag Mecklenburg-Vorpommerns ist für die Amadeu Antonio Stiftung in Berlin „eine Katastrophe“. „Der NPD ist es mit den Mitteln ihrer Landtagsfraktion gelungen, eine Infrastruktur in Nordostdeutschland aufzubauen, die sie nun weiter der rechtsextremen Szene zur Verfügung stellen kann“, teilte Geschäftsführer Timo Reinfrank am Montag mit. Gerade auf dem Land habe sich die Partei durch ihre Inszenierung als „Kümmerer“ fester verankert. Auch sei es ihr gelungen, mit kostenlosen Zeitungen, Bürgerfesten und dem Aufgreifen populärer Themen ihr Wählerklientel an sich zu binden.

Reinfrank hält die Auseinandersetzung mit den rechtsextremen Strukturen und Themen im Land für unbefriedigend. Die Politik müsse Bürger und zivilgesellschaftliche Initiativen stärker einbeziehen, empfahl er. Eine erneute Debatte über ein NPD-Verbot sei hingegen nicht hilfreich. Dies lenke eher von der Auseinandersetzung mit den Gründen für die Wahlerfolge der NPD vor Ort ab, sagte er.

Die 1998 gegründete Stiftung setzt sich für die Stärkung der demokratischen Zivilgesellschaft ein und wendet sich gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus.