Befürworter und Gegner des Projekts weisen sich nun gegenseitig die Schuld an der Eskalation zu. Eine Entspannung ist nicht in Sicht.

Stuttgart. Wer hat angefangen? Diese Frage scheinen die Protagonisten von Stuttgart 21 gerade zu erörtern. Projektgegner und -befürworter schieben sich gegenseitig die Schuld an den Gewaltausbrüchen zu. Während die Gegner der Bahn vorwerfen, die Stimmung durch den unbeeindruckten Weiterbau angeheizt zu haben, sehen die Befürworter die aggressiven Reden des Aktionsbündnisses Stuttgart 21 in der Verantwortung. Es wird ein "heißer Sommer" befürchtet.

Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) warf am Dienstag dem Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 vor, durch „die aggressiven und beleidigenden Reden und Angriffe in der Vergangenheit“ zu einem Klima der Gewaltbereitschaft beigetragen zu haben.

Die Sprecherin des Aktionsbündnisses, Brigitte Dahlbender, gab der Deutschen Bahn eine Mitschuld. „Wenn die Bahn so unbeeindruckt von allem weiterbaut, glaube ich, dass uns ein heißer Sommer ins Haus steht.“ CDU und FDP kritisierten die Landesregierung. Auch die Deutsche Polizeigewerkschaft forderte ein entschlosseneres Handeln von Grün-Rot. Die Staatsanwaltschaft nahm erste Ermittlungen wegen versuchten Totschlags auf.

Schuster sagte, „friedliche Demonstrationen gegen das Bahnprojekt dürfen nicht durch einzelne gewaltbereite Demonstranten missbraucht werden“. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Claus Schmiedel forderte Dahlbender und andere friedliche Demonstranten auf, sich aus dem Aktionsbündnis zurückzuziehen: „Anständige Leute haben dort nichts verloren“, sagte er.

„Deeskalieren muss man von allen Seiten“, sagte dagegen Bündnis-Sprecherin Dahlbender. Sie forderte die Deutsche Bahn deswegen auf, zu früheren Äußerungen zurückzukehren, wonach sie eine ergebnisoffene und transparente Debatte wolle.

Der Chef der FDP-Landtagsfraktion, Hans-Ulrich Rülke, machte Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) verantwortlich. Hermann hetze die Demonstranten auf und „erfinde“ täglich neue Argumente gegen das Bauprojekt. Der Generalsekretär der baden-württembergischen CDU, Thomas Strobl, kritisierte Winfried Kretschmann (Grüne). Als Ministerpräsident müsse sich Kretschmann von „solchen gewalttätigen und kriminellen Vorgängen klar distanzieren“.

Der DPolG-Bundesvorsitzende Rainer Wendt forderte von Kretschmann ein klares Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit, das der Polizei den Rücken stärke. „Die Polizei in Baden-Württemberg hat es nicht verdient, immer wieder für politische Versäumnisse im wahrsten Sinne des Wortes den Kopf hinhalten zu müssen“, sagte Wendt.

Die Bahn hatte vor wenigen Tagen die Bauarbeiten wieder aufgenommen. Allerdings ist die rechtliche Grundlage strittig. Vor kurzem war bekannt geworden, dass die Deutsche Bahn fast die doppelte Menge Grundwasser bei den Bauarbeiten abpumpen will. Der Bund für Umwelt und Naturschutz hält dieses Vorgehen für rechtswidrig und stellte am Dienstag einen Eilantrag beim Verwaltungsgericht Stuttgart gegen den Weiterbau.

Kretschmann sagte, wenn es nicht gelinge, weiter friedlich und auf sachlichen Argumenten aufbauend die Auseinandersetzung zu führen, laufe man Gefahr, den Schlichtungsprozess zu konterkarieren. Baden-Württembergs Innenminister Reinhold Gall (SPD) verurteilte die Gewalt. „Es ist erschreckend und nicht hinzunehmen, dass ein 42-jähriger Polizeibeamter von Störern zusammengeschlagen und erheblich verletzt wurde“, sagte er.

Der Beamte wurde am Montagabend von Demonstranten an Kopf und Hals verletzt. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart leitete ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf versuchten Totschlag gegen unbekannt ein. Acht Polizisten erlitten den Angaben nach Knalltraumata, als neben ihnen ein Sprengkörper eskalierte. Alle acht sind inzwischen wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden.

Darüber hinaus werde bei zwei festgenommenen Personen die Beantragung von Haftbefehlen wegen des Verdachts auf Landfriedensbruch erwogen.

Nachdem am Montagabend rund 3000 Menschen zunächst friedlich demonstriert hatte, eskalierte die Situation. Rund 1500 Demonstranten zogen zum Gelände des sogenannten Grundwassermanagements und rissen den Bauzaun nieder.

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Das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 distanzierte sich von der Eskalation. „Wir stehen nicht für Gewalt, sondern wollen eine Sachdebatte“, sagte die Sprecherin des Bündnisses und Landesvorsitzende des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) in Baden-Württemberg, Brigitte Dahlbender, der Nachrichtenagentur dapd. „Es gab eine Stimmung der Aggression. Das lehnen wir ab.“ Allerdings rief sie dazu auf, die Geschehnisse nicht hochzustilisieren. „Es ist nicht so, dass dort eine Gewaltorgie stattgefunden hätte“, sagte sie. Zudem gebe es Belege, dass ein Zivilfahnder die Leute angestachelt habe.

Bei dem Milliardenprojekt klafft nach Ansicht des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) eine riesige Finanzierungslücke. Der Grund: Die Kosten-Nutzen-Rechnungen aus den Jahren 2006 und 2008, aufgrund derer rund eine halben Milliarde Euro Fördergelder fließen sollten, seien überholt und deutlich zu positiv, erklärte VCD-Landesverbandsvorsitzender Matthias Lieb in Stuttgart. Die früheren Gutachten des Verkehrswissenschaftlichen Instituts Stuttgart hatten einen deutlich positiven Kosten-Nutzen-Faktor für das Bauprojekt ergeben. Der Diplom-Wirtschaftsmathematiker Lieb kommt in seinen Berechnungen dagegen auf einen negativen Faktor von 0,75 für das Gesamtprojekt.

Gründe dafür seien etwa die mittlerweile deutlich gestiegenen Projektkosten, weniger Fernverkehr als zunächst eingerechnet und vor allem Zeitverzögerungen an der geplanten S-Bahn-Haltestelle Mittnachtstraße. Alles in allem entstünden so zusätzliche jährliche Kosten von knapp acht Millionen Euro statt des zunächst angenommenen Nutzens von 15 Millionen jährlich.

Für die Förderung aus Finanzierungstöpfen zur Verbesserung des Nahverkehrs sei ein Kosten-Nutzen-Faktor von mindestens 1,0 vorgeschrieben. Dieser werde nach seinen Berechnungen deutlich unterschritten, sagte Lieb. „Es gibt keine gesetzliche Grundlage mehr für die vorgesehenen insgesamt rund 500 Millionen Euro Fördermittel aus Steuergeldern.“ Das fehlende Geld müsse laut Finanzierungsvertrag nicht von der Bahn, sondern von den anderen Kostenträgern wie Bund, Land und Kommunen geschultert werden, machte er deutlich.

Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) in Baden-Württemberg hat beim Verwaltungsgericht Stuttgart eine einstweilige Anordnung gegen den Weiterbau des Bahnprojekts Stuttgart 21 beantragt. Der Eilantrag richtet sich gegen das Eisenbahn-Bundesamt. Es soll der Deutschen Bahn anordnen, alle weiteren Baumaßnahmen mit sofortiger Wirkung zu untersagen, wie BUND-Landesgeschäftsführer Berthold Frieß sagte. Der Baustopp müsse solange gelten, bis in einem neuen Planfeststellungsverfahren über die Anträge der Deutschen Bahn auf erhöhte Grundwasserförderung und -entnahme rechtswirksam entschieden werde. Die Bahn hatte angekündigt, etwa doppelt so viel Grundwasser wie bislang bekannt abpumpen zu wollen. (dpa/dapd)