Walter Kohl machte die Leiden im Schatten des mächtigen Vaters öffentlich. Auch Christian Gauck litt unter der Rolle seines Vaters.

In seinen Träumen lebte er nicht in der DDR, sondern im Westen. Es war alles so real. Da war seine Tante, die im Westen lebte. Sie schauten gemeinsam Fernsehen, sie gingen in den Supermarkt zum Einkaufen. Der ganze Druck war weg. Er war frei. Doch dann wachte er auf. In der DDR. Wo er unterdrückt wurde. "Weil ich den falschen Vater hatte", sagt Christian Gauck.

Sein Vater. Joachim Gauck, der Pastor. Der hinter der Mauer für Freiheit und Demokratie kämpfte. Der kompromisslos war. Auch auf Kosten seiner Kinder. Das Regime schlug zurück: Bildung ist ein Menschenrecht, die DDR-Diktatur setzte es für Gaucks Kinder Christian, Martin, Gesine und Katharina außer Kraft. Da wollte Christian Gauck raus, nicht länger von Freiheit träumen, sondern Freiheit leben. Doch sein Vater, der so gute West-Kontakte hatte, weigerte sich, ihm zu helfen. Weil er ihn einspannen wollte für seinen Kampf für Menschenrechte. Christian ging trotzdem. Es kam zum Bruch.

Ein Februar-Nachmittag in Nienstedten, 24 Jahre später. Christian Gauck sitzt im Esszimmer seiner Drei-Zimmer-Wohnung. Auf dem großen Tisch stapeln sich Fotos aus seinem Leben. Auf vielen Bildern ist sein Vater zu sehen. Auf einem Sideboard liegt das Buch von Walter Kohl. Der Sohn des Altkanzlers hat über seine Probleme als "Sohn vom Kohl" geschrieben. Und darüber, dass sein Vater seine Situation nie verstanden hat. "Willst du die Trennung?", fragte der Sohn den Altkanzler. Der antwortete: "Ja."

Walter Kohl belegt mit seinem Buch den ersten Platz der Bestsellerlisten. Und Christian, der Sohn vom Gauck, denkt darüber nach, ob es Parallelen zu Walter Kohl gibt. Er denkt nach über seine Beziehung zum Vater. Dem er so ähnlich sieht, die breite Nase, das kantige Kinn, die vollen Haare, die braunen Augen. "So etwas wie ,Willst du die Trennung?' hat es bei uns nicht gegeben. Aber Monate der Funkstille schon", sagt Christian Gauck. Wie sein Vater hat er einen leichten Mecklenburger Akzent, obwohl er bald länger in Hamburg lebt als in Mecklenburg-Vorpommern.

Christian Gauck kommt in Rostock zur Welt, da studiert sein Vater noch Theologie. Die erste Stelle als Pastor bekommt der junge Joachim Gauck auf dem Land, in der Nähe von Güstrow. Seine Frau Hansi und die Kinder ziehen aufs Dorf. Als Christian zur Grundschule kommt, wird er mit der Ideologie des Arbeiter-und-Bauern-Staates konfrontiert. Weil er der Sohn vom Pastor ist. "Wo ist denn jetzt dein lieber Gott?", fragt ihn die Lehrerin in einer Pause auf dem Schulhof. "Ich glaube, überall. Auch in dem Tank von dem Motorrad da." Christian zeigt auf ein Motorrad, das vor der Schule parkt, die Lehrerin verhöhnt ihn. Als Geld für die Sowjetarmee eingesammelt wird, sagt Christian: "Wir sind Pastors, mein Vater mag keine Rote Armee." Christian geht nicht zu den Jungen Pionieren, später auch nicht in die FDJ. Er ist ein Außenseiter.

1971 nimmt Joachim Gauck eine Stelle in Rostock-Evershagen an. Er soll in einer neuen Plattenbau-Siedlung eine Gemeinde aufbauen. Der Frau und den Kindern fällt der Umzug sehr schwer. Joachim Gauck ist ein Getriebener, er ist ständig unterwegs, häufig bringt er Gäste mit nach Hause, denn anfangs hat die Gemeinde noch keine Kirche. In seiner Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung im Plattenbau gibt Joachim Gauck Christenlehre für Kinder und Konfirmanden-Unterricht für Jugendliche. Zu seinen eigenen Kindern ist er häufig kurz angebunden, ja sogar barsch. ",Kinder, erzählt doch mal - das gab es bei uns leider viel zu selten", sagt Christian Gauck. Jeder in der Familie hat seine Rolle. "Meine Rolle war: Ich bin der Sohn vom Pastor. Es war dieses leben oder gelebt werden - man musste einfach funktionieren. Da wurde nicht über Gefühle geredet." "Leben oder gelebt werden" - so lautet der Titel von Walter Kohls Buch.

Im Gegensatz zu Walter Kohl, den das Hadern mit seiner Rolle fast in den Selbstmord getrieben hat, nimmt Christian Gauck seine Rolle früh an. "Ich war selbst davon überzeugt, dass mein Vater recht hatte. Ich wusste, er macht das Richtige. Das hat mir immer imponiert." Dennoch hat er gelitten.

In der Rostocker Schule nehmen die Repressalien zu. Der Deutschlehrer schimpft vor versammelter Klasse, Christian sei kapitalistisch infiltriert. Der Pastorensohn schämt sich. "Ich hatte über Jahre hinweg Angst, auf mein Außenseiter-Dasein angesprochen zu werden - vor den anderen. Denn das konnten sie gut - Leute vor allen anderen an den Pranger stellen."

Er will studieren. Obwohl er gute Noten hat, wird er nicht zum Abitur zugelassen. Aus "Kontingentgründen". Er beginnt die DDR zu hassen.

Sein Vater hat in dieser Zeit schon Tausende Mitglieder in seiner Kirchengemeinde, hält regimekritische Predigten, organisiert Kirchentage.

Christian Gauck macht nach der Schule eine Lehre zum Orthopädie-Mechaniker. Nebenher holt er an der Abendschule das Abitur nach, viermal die Woche von 16.30 bis 21.30 Uhr, immerhin das darf er. Er bewirbt sich für das Medizinstudium - und bekommt eine Absage. Er sei doch der Sohn vom Pastor, sagt man ihm.

1984 stellt er den Ausreiseantrag. Die Klinik, in der er arbeitet, streicht ihm die Zulassung zur Meister-Qualifikation. Er schmeißt seinen Job, verdingt sich als Sekretär, Chauffeur. Und er schreibt wütende Briefe. "Wir haben es satt, uns ständig mit Plattitüden abspeisen zu lassen", schreibt er an Honeckers Behörden. Er habe den Eindruck, "dass wir systematisch für dumm verkauft werden". Nichts passiert.

Christian Gauck ist junger Familienvater, hat 1980 geheiratet, im gleichen Jahr kommt Antonia zur Welt, Josefine wird 1986 geboren. "Ich wollte um jeden Preis verhindern, dass meine Kinder in diese sozialistische Schule gehen müssen, um das zu erleben, was ich erlebt hatte", sagt er.

Christian Gauck bekommt mit, wie sich sein Vater bei West-Politikern für inhaftierte Kirchenmitglieder einsetzt und ihnen zur Ausreise in die Bundesrepublik verhilft. "Für andere setzt du dich ein! Für deine eigenen Söhne nicht!", schreit er seinen Vater an. Auch Gaucks zweiter Sohn Martin hatte einen Ausreiseantrag gestellt. Die Guten, entgegnet Joachim Gauck damals, sind nicht auf der Flucht. Die Guten stehen an der Front. Vater und Sohn sehen sich zwar ab und zu in diesen Jahren, aber sie reden aneinander vorbei. Nachts träumt Christian, dass er im Westen lebt. Morgens wacht er in der DDR auf. Er wird depressiv.

Einmal bricht seine Verzweiflung aus ihm heraus. Als wieder ein Flüchtling an der Mauer erschossen wird, pinselt er "Wieder Mord an der Mauer" an eine Steinmauer. Spät nachts, Gauck hat sich vorher Mut angetrunken. "Das war meine Heldentat. Da war ich nicht nur mutig, sondern auch ein wenig betrunken", sagt er heute.

Am 12. Dezember 1987, nach drei Jahren des Wartens, hat der Ausreiseantrag Erfolg. Die Gaucks stehen am Rostocker Hauptbahnhof und nehmen Abschied. Hansi Gauck, Christians Mutter, weint. "Wein doch nicht", sagt Joachim Gauck. Er gibt den starken Mann. Heute ist er tief berührt von seinem kalten Verhalten damals. 1987 reist nicht nur Christian aus, sondern auch sein Bruder Martin. 1989 wird Schwester Gesine folgen. Niemand weiß damals, wann sie ihre Eltern wiedersehen werden. Christian Gauck ist voller Optimismus. "Für mich begann mein Leben, Teil zwei." Als der Zug abfährt, bricht er weinend zusammen. "Ich habe begriffen, dass unser Aufbruch in den Westen dieses Mal kein Traum war."

Erst wohnt die vierköpfige Familie bei Freunden in Schleswig-Holstein, dann ziehen die Gaucks nach Hamburg. Christian Gauck kann jetzt endlich das tun, wovon er seit Jahren träumt: Medizin studieren. Die Uni Hamburg erkennt ihm Ausbildung und Berufsjahre als Wartesemester an. Seine Frau arbeitet, er kümmert sich um die Kinder und studiert. Er ist 27 Jahre alt, Vater von zwei Kindern. Seine Kommilitonen kommen gerade von der Schule.

Joachim Gauck befördert in dieser Zeit den Niedergang der DDR. Er schließt sich dem Neuen Forum an, spricht vor Tausenden Menschen. Die Montagsdemonstrationen finden in Rostock immer donnerstags statt. Er schreibt an seine Kinder: "Christian hat eben am frühesten angefangen, sich zu empören, und so war er immerzu um mich. Ich war voller Wut und Schmerz, dass er dies alles nicht mehr erlebt, was sein Herz so bewegt hätte."

Christian Gauck verfolgt den Umbruch in seiner Heimat im Fernsehen und im Radio. Er fährt aber nicht in den Osten, er will nicht dabei sein. "Ich hatte mein neues Leben in Hamburg", sagt er. Er ist fertig mit der DDR.

Als im wiedervereinigten Deutschland ein Leiter für die Stasi-Unterlagen-Behörde gesucht wird, fällt die Wahl auf Joachim Gauck. Auch für ihn beginnt das Leben, Teil zwei. In dem sich das Verhältnis zwischen Vater und Sohn erneut verschlechtert.

Joachim Gauck trennt sich von seiner Frau Hansi und zieht nach Berlin. "Meine Mutter war die Verlassene. Er ging weg. Er hatte sein neues Leben. Mein Vater hat meine Mutter nicht immer fair behandelt. Er war manchmal ein Verdränger vor dem Herrn", sagt sein Sohn heute. Joachim Gauck geht in seiner neuen Aufgabe völlig auf. Wenn ihn seine Kinder mit der Trennung konfrontieren, sagt er: "Ich habe so viel zu tun - ich kann mich darum nicht kümmern." Es ist wie früher, als er seine Kirchengemeinde aufbaute. Über Jahre hinweg haben Vater und Sohn nur wenig Kontakt - Joachim hat sein Leben in Berlin, Christian seins in Hamburg.

Die erste Ehe von Christian Gauck scheitert, er heiratet erneut, aber auch seine zweite Ehe ist mittlerweile am Ende. "Mein Vater und ich haben beide früh geheiratet und uns von unseren Partnerinnen getrennt. Mein Leben ist von politischen und privaten Brüchen begleitet - wie das meines Vaters", sagt Christian Gauck. Erst Mitte der 90er-Jahre finden Vater und Sohn zueinander. Auch weil sich Christian Gauck in seinem Vater oft wiedererkennt - und umgekehrt. "Ich bin auch so ein Getriebener. Ich setze hohe Ansprüche an andere Menschen. Ich ruhe nie in mir selbst", sagt er. Joachim Gauck hat seine Trennung von seiner Frau Hansi und seine Verdrängungsmuster aufgearbeitet. Heute ist das Verhältnis der beiden sehr gut, auf Familienfesten sind beide dabei. Joachim Gauck hat eine neue Partnerin, die in der Familie beliebt ist.

Christian Gauck ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie geworden, er arbeitet am Krankenhaus Tabea in Blankenese als leitender Oberarzt. Patienten sprechen ihn oft auf seinen Vater an. Den Vater, der in der DDR der "falsche Vater" war. Und der im wiedervereinigten Deutschland ein berühmter Vater geworden ist. Joachim Gauck, der ehemalige Pastor, der zehn Jahre die Stasi-Unterlagen-Behörde leitete. Der im Seniorenalter in Ost und West Begeisterung für Demokratie weckte.

Christian Gauck hat auf der Festplatte seines Computers Fotos gespeichert. Vom 30. Juni 2010, als sein Vater für das Amt des Bundespräsidenten kandidierte. Auf den Fotos sind Frank-Walter Steinmeier und Renate Künast zu sehen. Und die Gaucks. Christian Gauck sagt, es war ein schöner Tag, auch wenn Christian Wulff gewonnen hat.

Seit der Kandidatur ist Joachim Gauck ausgebucht. Er hält Vorträge, tritt im Fernsehen auf und verdient gutes Geld damit. Der Draht zu seinem Vater sei sehr gut, sagt Christian Gauck. "Aber ich bin nach wie vor sein härtester Kritiker in der Familie." Als Christian Gaucks Enkelsohn getauft wurde, wollte der Uropa absagen, er habe "terminliche Verpflichtungen". Erst nachdem Christian ihm eine böse Mail geschrieben hatte, kam er - und war glücklich mit der Entscheidung, sagt Christian Gauck. "Unsere Konflikte haben nie dazu geführt, dass wir uns voneinander abgewendet haben."

Kinder und Enkelkinder sagen nicht "Papa" oder "Opa" zu Joachim Gauck. Sie sagen "Joochen", das o im Namen Jochen wird in der Rostocker Gegend in die Länge gezogen.

Die Träume, die Christian Gauck damals haben hoffen und verzweifeln lassen, waren irgendwann weg. Christian Gauck sagt, es gab keinen Grund mehr für diese Träume.