In den deutschen Vertretungen im Ostblock sammelten sich ausreisewillige DDR-Bürger. Warschau, Prag und Budapest wurden im Sommer 1989 Tore in den Westen.

Hamburg. Im Sommer 1989 herrschte in der DDR bereits eine krisenhafte Stimmung. Die starre Haltung des SED-Regimes, das keinerlei Reformwillen erkennen ließ, sowie die Nachrichten aus Ungarn, wo DDR-Bürgern seit Mai immer wieder die Flucht nach Österreich gelang, trugen dazu bei, dass im Juli und August 1989 Millionen Menschen den realen Sozialismus für immer hinter sich lassen wollten.

Viele Möglichkeiten blieben den Fluchtwilligen damals nicht. Die ungarisch-österreichische Grenze war zwar seit Mai löchrig geworden, barg aber immer noch große Gefahren, und die Westgrenzen von DDR und Tschechoslowakei wurden nach wie vor streng bewacht. Wer sein Leben nicht riskieren wollte, aber bereit war, eine vielleicht Wochen oder gar Monate andauernde schwierige Situation zu ertragen, entschloss sich häufig dazu, eine bundesdeutsche diplomatische Vertretung aufzusuchen und diese erst dann wieder zu verlassen, wenn die DDR-Behörden die Ausreise zugesichert hatten.

Botschaftsbestzungen dieser Art gab es nicht erst seit 1989. Schon seit den 70er-Jahren, als immer mehr westliche Staaten diplomatische Beziehungen zu Ost-Berlin aufnahmen und Botschafter austauschten, wurden die diplomatischen Vertretungen immer wieder zu Fluchtburgen. Vor allem seit die Bundesrepublik im Mai 1974 in der DDR-Hauptstadt ihre Ständige Vertretung eröffnete, versuchten verzweifelte DDR-Bürger von Zeit zu Zeit in das von der Volkspolizei streng bewachte Gebäude an der Hannoverschen Straße einzudringen. Normalerweise hatten diese Aktionen Erfolg: Nachdem die DDR-Bürger den bundesdeutschen Angestellten erklärt hatten, dass sie das Gebäude nicht ohne die Zusicherung einer Ausreise wieder verlassen würden, setzten sich diese mit den DDR-Behörden in Verbindung und konnten meistens den Ausreisewunsch nach einiger Zeit durchsetzen.

Allerdings legten die DDR-Behörden stets Wert auf größte Diskretion. Das war in den 70er-Jahren noch möglich, als sich nur einzelne DDR-Bürger zu diesem Schritt entschlossen. Aber schon 1984 kam es zu einer deutsch-deutschen Krise: Ende Juni waren 55 Ostdeutsche in das Haus an der Hannoverschen Straße eingedrungen, das sie nur noch in Richtung Westen verlassen wollten. Eine dramatische Situation entstand am 26. Juni 1984, als sich ein junger Mann im Vorraum der Vertretung mit Benzin übergoss und anzünden wollte, und erst im letzten Moment von Mitarbeitern der Vertretung daran gehindert wurde, die ihn schließlich einließen. Daraufhin schloss Hans Otto Bräutigam, Bonns Chefdiplomat in Ost-Berlin, die Ständige Vertretung offiziell für den Publikumsverkehr. Erst nachdem der Anwalt Wolfgang Vogel eingeschaltet wurde, konnten die DDR-Bürger ihre Ausreise schließlich durchsetzen.

Durch das Festhalten an einer einheitlichen deutschen Staatsbürgerschaft hatten die bundesdeutschen Botschaften auch gegenüber DDR-Bürgern eine Fürsorgepflicht. Wer Einlass begehrte, konnte nicht abgewiesen und gleich gar nicht vor die Tür gesetzt werden. Dass andere westliche Staaten unter Umständen ganz anders verfuhren, mussten am 10. September 1988 18 DDR-Bürger feststellen, die die dänische Botschaft in Ost-Berlin besetzt hatten. Die Dänen setzten sich mit dem DDR-Außenministerium in Verbindung und noch am selben Tag nahm die Stasi die Besetzer fest, die wenig später zu Haftstrafen zwischen zwei und drei Jahren verurteilt wurden.

Wenn die DDR-Behörden Botschaftsbesetzer zähneknirschend in den Westen ziehen ließen, geschah das stets in der Hoffnung, Dampf aus dem Kessel zu nehmen und die innenpolitische Situation zu befrieden. Davon konnte im Sommer 1989 keine Rede mehr sein. Schon im Januar des Wende-Jahres waren neun DDR-Bürger in die bundesdeutsche Vertretung in Ost-Berlin geflohen. Und das war nur der Anfang: Im Frühling und Sommer füllten sich auch die bundesdeutschen Botschaften in Prag, Budapest und Warschau. Mitte Juli meldete das DDR-Außenministerium dem Politbüro, dass sich inzwischen 1700 Ostdeutsche in westlichen Botschaften aufhielten. Die Zustände in den Bürogebäuden, die alle nicht für den Aufenthalt so vieler Menschen ausgelegt waren, wurden immer unerträglicher. In Warschau übernahmen kirchliche Organisationen die Betreuung, in Budapest half das Internationale Rote Kreuz. Die Ständige Vertretung, in der sich etwa 130 Menschen aufhielten, musste kurzzeitig für den Besucherverkehr geschlossen werden. Dass die Lage in der bundesdeutschen Botschaft in Prag besonders prekär wurde, lag daran, dass die damalige CSSR das einzige Land war, in das DDR-Bürger unkompliziert und ohne vorherige Antragstellung reisen konnten.

Am 5. August brach das SED-Regime erstmals ein Tabu und nahm öffentlich zur bis dahin konsequent totgeschwiegenen Botschaftsflucht Stellung. In einer "Erklärung der Regierung der DDR", die im Fernsehen verlesen wurde, warnte das Regime seiner Bürger davor, über ausländische Botschaften die Ausreise zu erzwingen. Abgeschreckt wurde dadurch niemand, die Botschaften füllten sich weiter. Vor allem in Prag drohte die Situation aus dem Ruder zu laufen: Am 19. August lebten etwa 120 Flüchtlinge auf dem Gelände des barocken Palais Lobkowitz, das der deutsche Botschafter Hermann Huber am 23. August auf Anweisung des Auswärtigen Amtes schloss. Geändert hat das nichts, täglich kamen zwischen 20 bis 50 neue Flüchtlinge hinzu, die nun einfach über die Zäune kletterten. In den nächsten Wochen stieg die Zahl der Prager Botschaftsflüchtlinge auf bis zu 4000, die hier unter extremen Bedingungen leben mussten und teilweise in Zelten untergebracht waren. Zu einer Lösung kam es erst am 30. September, als Bundesaußenminister Genscher vom Balkon der Botschaft den Wartenden verkündete, dass die DDR-Behörden ihnen die Ausreise nun endlich genehmigt hätten. Was die SED als Entschärfung der Situation geplant hatte, erwies sich als das genaue Gegenteil: Mit der Massenausreise der Botschaftsflüchtlinge erreichte der Wendeherbst 1989 seine heiße Phase.