Der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit spricht im Abendblatt-Interview über Fachkräftemangel und wie er beseitigt werden kann.

Hamburg. Für den Herbst erwartet Raimund Becker von der Bundesagentur für Arbeit eine gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Doch eine Trendwende nach der Wirtschaftskrise sei das noch nicht. Bei seinem Besuch in der Abendblatt-Redaktion spricht das Vorstandsmitglied über fünf Millionen fehlende Arbeitskräfte und Vereinfachungen im Zuwanderungsgesetz.

Hamburger Abendblatt: Manchmal hat man in der momentanen Debatte das Gefühl, Deutschland ist ohne eine Fachkraft Vize-Exportweltmeister geworden. Wo sind die ganzen Fachkräfte?

Raimund Becker: Deutschland hat ja 27 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigte. Und die meisten davon sind Fachkräfte. Allerdings haben wir das gravierende Problem, dass in den nächsten zehn Jahren viele Fachkräfte in Rente gehen werden. Und es kommen nicht mehr genügend qualifizierte Menschen nach.

Und dennoch schicken viele Firmen ihre Mitarbeiter früher in Rente.

Becker: Langfristig ist es strategisch sinnvoll, alle Anreize zur Frühverrentung abzuschaffen. Dazu gehört die Verlängerung der Laufzeit von Arbeitslosengeld genauso wie die Altersteilzeit. Es ist wichtig, die Menschen länger in den Betrieben zu halten. Dazu gehört auch ein späteres Renteneintrittsalter, das momentan durchschnittlich bei 63 Jahren liegt.

Die Rente mit 67 ist also richtig?

Becker: Der Punkt ist, dass sich Arbeitgeber vielmehr die Frage stellen müssen, wo sie ihre Arbeitskräfte herbekommen, wenn es immer weniger junge Menschen auf dem Arbeitsmarkt gibt. Da wird man sich stärker mit dem Thema ältere Beschäftigte, Gesundheitsprävention und Lernformen für Ältere auseinandersetzen müssen. Denn den demografischen Wandel werden die Unternehmen mit aller Kraft zu spüren bekommen. Es werden in den Jahren 2025 bis 2030 bis zu fünf Millionen Arbeitskräfte fehlen.

Was können die Betriebe dagegen tun?

Becker: Zunächst müssen sie den innerdeutschen Arbeitsmarkt voll ausschöpfen. Teilweise werden wir aber auch auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen sein. Und es wird in Zukunft noch stärker darauf ankommen, Frauen und auch Migranten besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

Der Chef des Deutschen Wirtschaftsforschungsinstituts fordert jährlich 500 000 Einwanderer für Deutschland.

Becker: Deutschland muss eine Doppelstrategie fahren. Einerseits das inländische Erwerbspersonenpotenzial ausschöpfen, andererseits aber auch Zuwanderung zulassen. Zuwanderung darf aber nicht das innerdeutsche Arbeitskräftepotenzial verdrängen. So müssen Unternehmen unter anderem verstärkt Jugendlichen mit Startschwierigkeiten hier in Deutschland eine Perspektive geben. Richtig ist aber, dass Deutschland mittelfristig nicht mehr genügend Ingenieure ausbilden kann. Da brauchen wir dringend Verstärkung aus dem Ausland.

Woran liegt es, dass Deutschland nicht genügend Ingenieure hat?

Becker: Es kommen einfach zu wenige ausgebildete Ingenieure von den Universitäten. 35 Prozent aller Studenten in Deutschland brechen ihr Ingenieursstudium ab.

Sind Unternehmen zu verschlossen für Zuwanderer aus dem Ausland?

Becker: Nein, sicher nicht. Dass nicht genügend Fachkräfte nach Deutschland kommen, liegt vor allem an hohen Hürden im Aufenthaltsrecht. Unser Zuwanderungsrecht ist viel zu differenziert. Ein Beispiel: Wenn eine Fachkraft aus dem Ausland hier mehr als 66 000 Euro im Jahr verdient, dann ist das Niederlassungsrecht unbefristet. Wer aber nur ein befristetes Aufenthaltsrecht bekommt, überlegt sich sehr genau, ob er sich für eine Stelle in Deutschland bewirbt und seine Familie nachziehen lässt.

Sind die Gesetze für Zuwanderer zu scharf?

Becker: Zumindest muss sich das Land für eine ökonomische Zuwanderung stärker öffnen. Bisher ist das Thema in Deutschland vorwiegend aus humanitärer Sicht und vom Nachzug von Familienangehörigen geprägt. In Zukunft werden wir Zuwanderung stärker als Ressource verstehen müssen.

Und die Regierung muss entsprechend die Gesetze lockern ...

Becker: Das muss die Politik entscheiden. Wenn wir aber beispielsweise in einer bestimmten Region oder einem Bundesland einen nicht zu deckenden Bedarf an Elektrikern haben, sollten wir dort dezentral die Hürden für Arbeitserlaubnisse senken. Das würde auch den Betrieben helfen.

Unternehmen brauchen Sicherheit. Aber haben sie auch Mut, unerfahrenen Bewerbern eine Chance zu geben?

Becker: Die Unternehmen müssen sich in der Tat öfter trauen, nicht nur Olympioniken einzustellen. Und sie müssen vor allem eines: unerfahrenen Bewerbern eine Ausbildungschance geben, sie gut ausbilden und in der Folge regelmäßig weiterbilden. In den letzten Jahren hat die Bundesagentur für Arbeit in vielen Fällen Betriebe dabei unterstützt, Mitarbeiter weiterzubilden, die zum Beispiel gering qualifiziert waren. Allein im vergangenen Krisenjahr haben wir 330 Millionen Euro an Unternehmen gezahlt, um unter anderem den Lohnausfall in den Betrieben bei der Weiterbildung Beschäftigter auszugleichen.

Bilden die Schulen falsch aus?

Becker: Viel zu viele Jugendliche verlassen die Schule noch ohne Abschluss. Oftmals fängt das Problem schon vor der Schule an. Viele Kinder bekommen keine ausreichende Orientierung mehr von ihren Eltern vermittelt, und das setzt sich dann in der Schule fort.

Aber die Lehrer machen alles richtig?

Becker: Sicher brauchen wir neue pädagogische Zugänge zu den Schülern. Entscheidend ist, dass Lehrer die Jugendlichen zum Schulabschluss bringen und für einen Beruf begeistern können. Mit jährlich 70 Millionen Euro haben wir gemeinsam mit Ländern und Arbeitgebern Projekte in Schulen gestartet, um Jugendlichen bei ihrer Berufsorientierung zu helfen. Wenn es um die berufliche Perspektive eines Menschen geht, müssen auch die Lehrer stärker eingebunden werden.

Trägt der Wechsel vom Diplom- zum Bachelorstudium zum Fachkräftemangel in Deutschland bei?

Becker: Es gibt sicher noch immer Skepsis bei den Unternehmen gegenüber den neuen Studienabschlüssen. Der Diplomingenieur war ein deutsches Markenzeichen. Viele wollen sich nur schwer davon trennen. Doch das neue Studiensystem bringt uns auch voran: Die Abschlüsse sind international vergleichbar. Und vor allem studieren junge Menschen jetzt schneller. Somit stehen sie auch eher für den Arbeitsmarkt bereit.

Die Arbeitslosenzahlen gehen zurück. Ist die Wirtschaftskrise jetzt schon überstanden?

Becker: Es gibt eine gute wirtschaftliche Entwicklung. Aber das ist noch keine Trendwende. Denn noch immer sind 400.000 Menschen in Kurzarbeit.

Wird sich der positive Trend denn im Herbst fortsetzen?

Becker: Auf dem Arbeitsmarkt sieht es für den Herbst gut aus. Wir müssten unter die Marke von drei Millionen Arbeitslosen kommen. Die Arbeitssituation in der Pflege und im Gesundheitssystem entwickelt sich positiv. Das verarbeitende Gewerbe kommt in Schwung. Die Kurzarbeit geht weiter zurück. Zumindest für den Herbst haben wir Grund zum Optimismus.

Das Gespräch führten Egbert Nießler, Christian Unger und Mascha Blender