Schon am Sonntag wollte Margot Käßmann aufgeben. Ludger Fertmann und Volker ter Haseborg rekonstruieren die Stunden der Entscheidung.

Hannover. Wer aus der Innenstadt von Hannover zur Zentrale der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) will, kommt fast zwangsläufig über diese große Kreuzung Friedrichswall direkt am Rathaus. Auch ihre letzte Dienstfahrt führt die hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann an diesem Mittwoch vorbei an jener Ampel, an der sie in der Nacht zum Sonntag das Rotlicht übersehen hat. An die Stelle, die ihr zum Verhängnis wurde.

Doch im Kirchenamt der Evangelischen Kirche sitzt keine Zerknirschte. Hier sitzt eine Aufrechte, die zu ihrem Fehler steht. Margot Käßmann schaut in die vielen Kameras und sagt: "Mein Herz sagt mir ganz klar: Ich kann nicht mit der notwendigen Autorität im Amt bleiben."

1. EIN PORTRÄT ÜBER MARGOT KÄßMANN

2. RÜCKTRITTSERKLÄRUNG IM WORTLAUT

3. DIE RECHTLICHE SITUATION NACH DEM RÜCKTRITT

4. DIE SEITE 3 AUS DEM HAMBURGER ABENDBLATT: MARGOT KÄßMANN - BLACKOUT EINER BISCHÖFIN

Es ist keine Predigt, die sie im Kirchenamt hält, gestern um 16.02 Uhr. Aber es ist auch mehr als nur ein öffentlicher Rücktritt mit Entschuldigung. Sie räumt den schweren Fehler der Alkoholfahrt ein, aber vor allem teilt sie das Ergebnis ihrer eigenen Abwägung mit: "Ich kann und will nicht darüber hinwegsehen, dass das Amt und die Autorität als Landesbischöfin sowie als Ratsvorsitzende beschädigt sind."

Die 51-Jährige hat sich in der männerdominierten Kirche ganz nach oben gekämpft und will jetzt in der Niederlage wenigstens klarmachen, dass auch diese Entscheidung ganz ihre Entscheidung ist. Sie hat sich zum Rücktritt durchgerungen trotz der eindeutigen Solidarität ihrer Kirche.

Kaum fünf Minuten dauert der Auftritt, aber selbst im Scheitern wird noch einmal deutlich, wie sie es zur Vorzeigefrau des deutschen Protestantismus schlechthin gebracht hat. Die zierliche Frau mit den kurzen schwarzen Haaren ist natürlich sichtlich müde, dennoch schaut sie immer mal wieder auf, sucht und findet Blickkontakt zu den Menschen vor ihr. Als sie sagt, sie sei gern und mit Leib und Seele Bischöfin gewesen, da lächelt sie sogar. Wehmütig, aber sie lächelt - in der schwersten Stunde ihrer Karriere.

Die Entscheidung zum Rücktritt hat sich Käßmann abgerungen. "Schon am Sonntag wollte sie zurücktreten, aber ihre Berater haben sie zurückgehalten", sagt der bayerische Landesbischof Johannes Friedrich dem Abendblatt. Und Käßmann machte erst mal weiter, empfing am Montag noch Journalisten, äußerte sich zur Hartz-IV-Debatte, absolvierte noch eine Abendveranstaltung in Hannover.

Dann, am Dienstag, wurde die Alkoholfahrt öffentlich. Käßmann sagte alle Termine ab, zog sich in ihren Dienstsitz mit der Dienstwohnung im Obergeschoss zurück. Nur ihre engsten Berater aus der EKD und der Hannoveraner Kirche und ihre vier Töchter durften zu ihr. Blumen wurden geliefert, Briefe und E-Mails kamen an. Die Botschaft: Mach weiter!

Am Dienstagabend um 20.30 Uhr kam es zu einer in der Geschichte der EKD einmaligen Telefonkonferenz. Alle 14 Ratsmitglieder der EKD waren zugeschaltet, auch Käßmann. "Wir haben einmütig gesagt: ,Wir möchten, dass du bleibst'", erinnert sich Ratsmitglied Johannes Friedrich. Käßmann selbst äußerte sich nicht über einen möglichen Rücktritt. Nach einer Stunde war die Telefonkonferenz zu Ende. In einer dürren Erklärung teilten die Räte danach ihre Solidarität mit. Aber auch: "In ungeteiltem Vertrauen überlässt der Rat seiner Vorsitzenden die Entscheidung über den Weg, der dann gemeinsam eingeschlagen werden soll."

Es ging eben auch um Fragen der angeknacksten Autorität, die zu erwartende Dauer des Medienrummels vor allem vor dem Hintergrund, dass Käßmann nicht allein war, als die Polizei sie am Sonnabend gegen 23 Uhr wenige Hundert Meter von ihrer Dienstwohnung entfernt bei dem Rotlichtverstoß beobachtete und ihr bis nach Hause folgte.

Das Innenministerium in Hannover machte gestern das Gerücht vom Begleiter zur Tatsache, indem Sprecher Klaus Engemann rechtfertigte, warum dessen Personalien nicht aufgenommen worden sind. Ein solcher Beifahrer spiele nur eine Rolle, "wenn der Fahrer völlig kontrollunfähig ist". In Hamburger Polizeikreisen hat diese Argumentation einige Verwunderung ausgelöst, weil normalerweise bei Alkoholverstößen die Personalien sämtlicher Mitfahrer aufgenommen werden.

Aber Engemanns Erklärung führt nahtlos zur nächsten öffentlichen Spekulation, nämlich darüber, ob die Kirchenfrau an den Konsum einiger Mengen Alkohols gewöhnt ist. Nach Informationen aus Polizeikreisen in Hannover zumindest wirkte sie trotz 1,54 Promille nicht betrunken und erst recht nicht kontrollunfähig.

"Die Entscheidung zum Rücktritt ist am Mittwochmorgen gefallen", sagt Johannes Friedrich. Zweimal hat er noch versucht, Käßmann zum Weitermachen zu überreden. Beim zweiten Anruf habe sie geantwortet: "Ich habe mich entschieden, ich kann nicht anders damit leben. Ich sehe keine andere Möglichkeit mehr als den Rücktritt." Es hätte einfach zu starke Reaktionen zu ihrer Alkoholfahrt gegeben, sagt Friedrich. "Sie wäre immer wieder darauf angesprochen worden."

In ihrer Rücktrittserklärung geht Käßmann auf die vielen neugierigen Fragezeichen zurückhaltend ein: "So manches, was ich lese, ist mit der Würde dieses Amtes nicht vereinbar."

Als sie an diesem Mittwoch im Kirchenamt durch ist mit ihrer Erklärung, gibt es im großen Saal Applaus, auch von Journalisten, aber vor allem von zahlreichen Mitarbeitern, die ihre Tränen nur mühsam unterdrückten. "Ich bin zutiefst traurig, betroffen und bedrückt. Ihr Rücktritt ist ein großer Schaden für die EKD. Sie ist unersetzlich", sagt Johannes Friedrich. Käßmann müsse jetzt völlig anders leben, als sie es geplant hat. "Sie hat so viele Fähigkeiten, die kann man nicht verkommen lassen."

Sie galt als zuweilen zu umtriebig, manchem konservativen Kirchenfunktionär auch zu medienorientiert. Ganz zu schweigen von der Debatte um einen Rückzug der deutschen Soldaten aus Afghanistan, angezettelt von ihr im Alleingang. Doch Käßmann stand dazu. "Wenn ich blauäugig bin, kann man mich ja ignorieren", sagte sie einmal dem "Stern".

"Ich geh danach weg", hat Käßmann ihrem Sprecher vor ihrer Rücktrittserklärung gesagt. Und so geht sie, als es vorbei ist. Fragen will sie nicht beantworten. Vor der Tür des Kirchenamtes wartet der schwarze VW Phaeton, den sie in der Nacht zum Sonntag selbst gesteuert hat. Jetzt bringt ihr Fahrer sie nach Hause - die letzte Dienstfahrt. Dort warten Kameraleute, aus einem anderen Auto steigen die vier Töchter im Alter zwischen 18 und 27 Jahren. Sarah, Hanna, Lea und Ester haben die Mutter demonstrativ ins Kirchenamt begleitet, waren bei der Rücktrittserklärung dabei und gehen jetzt auch gemeinsam ins Haus - das sie jetzt werden räumen müssen. Margot Käßmann ist von jetzt an "Landesbischöfin a. D".