Erst wenn der Bundestag der Aufhebung von Christian Wulffs Immunität zugestimmt hat, darf die Staatsanwaltschaft Hannover ermitteln.

Hannover. Für Bundespräsident Christian Wulff wird die Luft an der Spitze des Staates immer dünner. Damit der Weg für Ermittlungen gegen ihn frei ist, beantragte die Staatsanwaltschaft Hannover in einem historisch einmaligen Vorgang am Donnerstagabend die Aufhebung der Immunität des Staatsoberhaupts. Es bestehe ein Anfangsverdacht wegen Vorteilsannahme, erklärte ein Sprecher. Jetzt muss der Bundestag über den Fall Wulff abstimmen. Möglicherweise passiert das noch in diesem Monat. Die SPD und die Grünen forderten Wulffs Rücktritt.

Die Kredit- und Medienaffäre Wulffs erreicht damit einen weiteren Tiefpunkt: Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wird ein Ermittlungsverfahren gegen einen amtierenden Bundespräsidenten eingeleitet. Die Staatsanwaltschaft erklärte, nach umfassender Prüfung neuer Unterlagen und der Auswertung weiterer Medienberichte sehe sie „zureichende Anhaltspunkte“. Auch gegen den Filmunternehmer David Groenewold bestehe ein Anfangsverdacht wegen Vorteilsgewährung. Groenewold soll mit Wulff eng verbandelt sein.

Mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft ist aber noch nicht klar, ob tatsächlich gegen Wulff ermittelt wird. Er ist wie die Parlamentarier auf Bundes- und Landesebene durch die Immunität geschützt. Die Staatsanwaltschaft darf deswegen erst ermitteln, wenn der Bundestag zuvor den Schutz vor Strafverfolgung aufgehoben hat.

SPD für die Aufhebung der Immunität

SPD-Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann sprach sich für die umgehende Aufhebung der Immunität aus. Seine Partei werde den Antrag der Staatsanwaltschaft Hannover befürworten, er rechne mit einer großen Mehrheit im Plenum, teilte Oppermann via Kurznachrichtendienst Twitter mit. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Christian Lange, der Mitglied des Immunitätsausschusses ist, sagte der Tageszeitung „Die Welt“: „Wir sind jederzeit zu einer Sitzung des Immunitätsausschusses bereit und dafür, die Immunität des Bundespräsidenten aufzuheben.“

Der Immunitätsausschuss des Bundestags wird sich womöglich noch in diesem Monat mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft befassen. Ausschussvorsitzender Thomas Strobl (CDU) sagte dem Blatt, wenn ein solcher Antrag „bei uns einginge, würden wir diesen im Ausschuss beraten und dem Plenum des Bundestages eine Beschlussempfehlung geben, ob die Immunität des Bundespräsidenten aufzuheben wäre.“ Die nächste Sitzungswoche des Bundestages beginnt am 27. Februar. Der Immunitätsausschuss tagt normalerweise immer am Donnerstag. Er kann aber auch auf den Montag vorgezogen werden.

CDU und Merkel schweigen – Auch FDP bleibt stumm

SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles forderte unterdessen Wulffs Rücktritt. „In meinen Augen ist eine staatsanwaltschaftliche Ermittlung mit dem Amt des Bundespräsidenten unvereinbar“, sagte sie der „Passauer Neuen Presse“ (Freitagausgabe) einem Vorabbericht zufolge. Auch der Grünen-Politiker Christian Ströbele befürwortete einen Rücktritt. Für ihn sei es „unvorstellbar, dass demnächst Staatsanwälte das Schloss Bellevue durchsuchen“, sagte Ströbele dem „Tagesspiegel“ und forderte: „Christian Wulff sollte die Konsequenzen ziehen, jetzt reicht’s.“

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Der Parteivorsitzende der Linken, Klaus Ernst, betonte, dass sich auch ein Bundespräsident nicht im rechtsfreien Raum bewegt. „Auch ein Bundespräsident muss sich an Recht und Gesetz halten. Der Ausschuss muss jetzt genau prüfen, ob die Vorwürfe wirklich ausreichen, um die Immunität aufzuheben“, sagte Ernst der dapd.

Die CDU-Bundespartei wollte sich hingegen auf Anfrage nicht zu dem Thema äußern. Die FDP gab ebenfalls keine Stellungnahme ab.

Staatsrechtler: Merkel steckt nun in einem Dilemma

Nach Einschätzung des Staatsrechtlers Hans Herbert von Arnim liegt der Schwarze Peter nun bei Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihrer Regierungsmehrheit. Denn ohne sie könne der Bundestag die Immunität Wulffs nicht aufheben, sagte der Wissenschaftler der dapd. „Das bringt Merkel in ein Dilemma: Ein von ihr ausgesuchter Präsident, gegen den strafrechtlich ermittelt wird, ist genau so belämmernd wie ein Präsident, gegen den – allein wegen seiner Immunität – nicht ermittelt werden kann.“

Wulff könnte sie aus der Zwangslage befreien, indem er zurückträte, doch das bringe Merkel in ein neues Dilemma, sagte von Arnim. Wulff werde vermutlich nur gegen die Zusage Merkels zurücktreten, den Ehrensold, also das Bundespräsidenten-Ruhegehalt, zu bekommen. „Dies wäre aber nur möglich, wenn die Regierung dem Gesetz Gewalt antut. Denn beim Rücktritt aus persönlichen Gründen darf der Präsident eigentlich keinen Ehrensold erhalten“, sagte von Arnim weiter.

Zwei Umzugskartons mit Akten

Am Mittwoch erst hatte die Staatsanwaltschaft Hannover viele wichtige Akten im Fall Wulff erhalten. Zwei Umzugskartons mit 16 Ordnern und mehreren Heftern erreichten die Behörde aus der niedersächsischen Staatskanzlei. Zudem wurden Papiere über die umstrittene Bürgschaftszusage des Landes an Groenewold geliefert.

Lange hatte sich die Staatskanzlei Zeit gelassen, bevor sie nun die Aufhebung der Immunität beantragte. Seit Beginn der Affäre konnten die Ermittler immer nur Zeitungsartikel und Fernsehberichte auswerten. Im Rahmen der Ermittlungen können nun umfangreich Akten geprüft werden.

Der Bundespräsident steht seit zwei Monaten wegen diverser Affären in der öffentlichen Kritik. Der Filmunternehmer Groenewold hatte Wulff und seiner heutigen Ehefrau Bettina 2007 Übernachtungen in einem Luxushotel auf Sylt zunächst bezahlt. Wulff soll diese Auslagen später bar an den Unternehmer zurückgezahlt haben. Groenewolds Firma hatte unter der von Wulff geführten Landesregierung eine Bürgschaftszusage des Landes Niedersachsen erhalten.

Wulff ist am Zug

Die Nachricht von den geplanten Ermittlungen gegen Wulff verbreitete sich rasend schnell und vermieste vielen Bundestagsabgeordneten am späten Donnerstagabend die Karnevalslaune. Vor allem die Parlamentarier von Union und FDP mussten schwer schlucken. Das zweite Griechenland-Paket ist noch längst nicht verdaut, und jetzt das: Vermutlich schon in anderthalb Wochen müssen sie darüber entscheiden, ob sie das Staatsoberhaupt an den Pranger stellen wollen. Ein Rücktritt Wulffs wird immer wahrscheinlicher.

Offiziell gab es in Kreisen von CDU/CSU und FDP am Donnerstagabend keine Stellungnahmen, nachdem die Staatsanwaltschaft Hannover die Aufhebung der Immunität des Staatsoberhaupts beantragt hatte. Nur hier und da wurden ein paar wenige Stimmen laut, die im Tenor das fortsetzten, was schon seit Wochen hinter den Kulissen geredet wird: Jetzt ist der Bundespräsident an der Reihe, sich zu erklären.

Erklären heißt in diesem Fall vor allem eines: Rücktritt. Denn Wulff hat mit seiner Salamitaktik in den vergangenen Wochen insbesondere die Union, die seine politische Heimat ist, in eine unmögliche Situation gebracht.

Wulff selbst könnte den Bundestag um Aufhebung bitten

Die CDU/CSU hat zusammen mit dem Koalitionspartner FDP im Immunitätsausschuss des Bundestages die Mehrheit, sie entscheidet quasi über Wulffs Zukunft. Stimmen die Regierungsfraktionen der Aufhebung beziehungsweise einer entsprechenden Empfehlung an das Plenum nicht zu, wird es heißen, es gebe etwas zu vertuschen. Stimmen sie zu, würde gedeutelt werden, die Regierung entziehe dem Bundespräsidenten den Rückhalt und habe kein Vertrauen mehr.

Entsprechendes gelte auch für eine Abstimmung im Bundestag, und vermutlich werden es die Parteioberen Wulff nicht zugestehen, dass er sie in eine solche, auch international aufsehenerregende Zwickmühle bringt. Zumal sich der aufgestaute Unmutsdruck bei den Parlamentariern in einem breiten Votum für eine Aufhebung der Immunität entladen könnte. Wulff wäre damit dauerhaft beschädigt und blamiert.

Denkbar wäre jedoch auch noch ein anderes Szenario: Wulff bittet den Bundestag öffentlich, der Aufhebung seiner Immunität zuzustimmen, damit die Affäre rückhaltlos aufgeklärt werden kann. Ein solches Verhalten würde zu Wulffs Taktik der kleinen Schritte in den vergangenen Wochen passen. Das könnte den Druck auf die Regierung und Bundeskanzlerin Angela Merkel mindern. Zur dauerhaften Beruhigung der Lage würde es sicherlich nicht beitragen.

Szenario drei könnte sein, was sich Umfragen zufolge mittlerweile eine Mehrheit der Deutschen wünscht: Wulff tritt zurück. Folgt er seinen eigenen Worten, käme diese Variante durchaus in Betracht. Beim traditionellen Sternsingerempfang im Schloss Bellevue hatte Wulff Anfang des Jahres noch erklärt, die vergangenen Wochen habe er als dermaßen belastend empfunden, dass er sich diesen Druck „nicht noch einmal zumuten“ wolle.

Nach dem Antrag der Staatsanwaltschaft ist der Druck eindeutig noch einmal gestiegen.

Hintergrund: Die Immunität des Bundespräsidenten

Ein Bundespräsident genießt für die Dauer seiner Amtszeit Immunität. Während dieser Zeit ist er also vor Strafverfolgung geschützt. Allerdings kann der Bundestag die Immunität aufheben. Erst danach kann eine Staatsanwaltschaft mit Ermittlungen beginnen.

Die Immunität des Bundespräsidenten ist – verklausuliert – im Grundgesetz in Artikel 60, Absatz 4, geregelt. Dort heißt es: "Die Absätze 2 bis 4 des Artikels 46 finden auf den Bundespräsidenten entsprechende Anwendung.“

Artikel 46, Absatz 2 schreibt vor: "Wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung darf ein Abgeordneter nur mit Genehmigung des Bundestages zur Verantwortung gezogen oder verhaftet werden, es sei denn, dass er bei Begehung der Tat oder im Laufe des folgenden Tages festgenommen wird.“

Absatz 3 legt fest, dass die Genehmigung des Bundestages bei jeder anderen Beschränkung der persönlichen Freiheit oder zur Einleitung eines Verfahrens gegen einen Abgeordneten gemäß Artikel 18 (Missbrauch der Freiheit der Meinungsäußerung zum Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung) erforderlich ist.

In Absatz 4 wiederum heißt es: "Jedes Strafverfahren und jedes Verfahren gemäß Artikel 18 gegen einen Abgeordneten, jede Haft und jede sonstige Beschränkung seiner persönlichen Freiheit sind auf Verlangen des Bundestages auszusetzen.“ Mit Material von dpa und dapd