Beschwerdeführer Burkhard Hirsch spricht von “Dammbruch“. Jeder werde als Täter behandelt. Bürgerrechtler fürchten einen Überwachungsstaat. Vertreter der Bundesregierung warnt vor Einschränkungen für die Ermittler.

Hamburg. Höher hätte der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, die Tragweite der Verhandlung über die Vorratsdatenspeicherung gestern kaum einordnen können. Bei der mündlichen Verhandlung in Karlsruhe sagte er: "Die heute verhandelten Beschwerden werfen grundlegende Fragen zum Verhältnis von Freiheit und Sicherheit auf."

34 339 Bürgerrechtler, Anwälte, Politiker, Journalisten, Mediziner und Internet-Anbieter - so viele wie nie zuvor in einem Fall - haben gegen die seit einem Jahr geltende Vorratsdatenspeicherung Beschwerde eingelegt. Sie halten die Umsetzung der EU-Richtlinie, nach der die Telekommunikationsanbieter sechs Monate lang alle Daten zur möglichen Aufklärung von Verbrechen speichern müssen, für verfassungswidrig. Den Richtern des Ersten Senats präsentierten sie gestern ein Feuerwerk von Argumenten gegen die Vorratsdatenspeicherung.

Der FDP-Politiker Burkhard Hirsch warnte als einer der Beschwerdeführer vor einem "Dammbruch", der zu einer "schleichenden Aushöhlung der freiheitlichen Substanz" führen könne. Jeder werde mit der Gesetzesänderung wie ein potenzieller Straftäter behandelt, sagte er. Jeder "elektronische Atemzug" werde gespeichert. "Und genau das wollen wir nicht", sagte Hirsch.Völlig offen sei, für wie viele Zwecke die Vorratsdatenspeicherung genutzt werde.

Seit einer Einschränkung des Bundesverfassungsgerichts im März 2008 dürfen die Ermittler auf die Daten nur bei Verdacht auf schwere Straftaten mit richterlicher Genehmigung zurückgreifen. Doch der Gesetzestext greift nach Angaben von Hannah Seiffert vom Eco-Verband der deutschen Internetwirtschaft viel weiter. "Nach dem Gesetzestext geht es nicht nur um die Verfolgung hochrangiger Rechtsgüter, sondern auch um sämtliche Bagatellfälle, die man kennt", sagte Seiffert, die die Verhandlung in Karlsruhe gestern verfolgte, dem Abendblatt.

Die Vorratsdatenspeicherung wecke zudem Begehrlichkeiten. Als Beispiel nennt sie den Vorschlag von Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner, auch Betrugsfälle im Internet über den Zugriff auf die Vorratsdaten aufzuklären. Der Eco-Verband lehnt nicht nur das Abrufen der Telekommunikationsdaten, sondern schon deren Erhebung ab. Auch Burkhard Hirsch sieht schon da die Verletzung der Grundrechte. "Wo ist die Grenze der Datenspeicherung?", fragte er gestern.

Mit den gespeicherten Daten der Telekommunikationsanbieter können die Ermittler nachverfolgen, wer mit wem von wo aus telefoniert oder über E-Mail kommuniziert habe. Was für die Ermittler ein dringendes Instrument im digitalen Zeitalter ist, ist für die Bürgerrechtler das Schreckgespenst des Überwachungsstaates, der über verschiedenen Datenbanken die Bürger kontrollieren kann. Constanze Kurz, Sprecherin des Chaos Computer Clubs, sagte gestern als Sachverständige, auf Basis der gespeicherten Verbindungsdaten könnten Sozial- sowie Standortprofile erstellt werden. Mobiltelefonierer könnten auf bis zu 70 Meter genau geortet werden. Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar verstärkte diese Befürchtungen noch. Er habe mit Erschrecken festgestellt, dass Telekommunikationsanbieter mehr Daten speicherten als vorgeschrieben. Ein Anbieter etwa speichere im 15-Minuten-Takt den Aufenthaltsort von Smartphone-Besitzern, auch wenn diese die Geräte nicht nutzten. So ließen sich Bewegungsprofile über sechs Monate erstellen.

Der Bevollmächtige der Bundesregierung, Professor Christoph Möllers, bleibt dennoch optimistisch. "Wir glauben nicht, dass es zu einem allgemeinen Verbot der Speicherung kommen wird", sagte er. Er warnte gleichzeitig vor Einschränkungen bei der Vorratsdatenspeicherung, weil ansonsten digitale Straftaten womöglich "privilegiert" würden. Die Staatssekretärin Birgit Grundmann aus dem Bundesjustizministerium, die Ministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger vertrat, sagte, die Bundesregierung sehe dem Urteil zu der Umsetzung der EU-Richtlinie "mit großem Interesse" entgegen.