Guido Westerwelle verspricht: “Wir haben ein Herz für die kleinen Leute.“ So versucht er, die Wählerbasis der einstigen Klientelpartei zu verbreitern. Karsten Kammholz berichtet aus Berlin über den Wandel der Liberalen.

Als Guido Westerwelle vor das Mikrofon trat, sprach da die meiste Zeit der neue Außenminister, der Stellvertreter der Bundeskanzlerin, der Chef der mächtigen Regierungspartei FDP. Nur ein einziges Mal, ein vielleicht allerletztes Mal, traute sich der kommende Vizekanzler zurück in die Rolle des angreifenden Oppositionsführers. "Hirnverbrannt" nannte er in diesem Moment all diejenigen, die die Politik der FDP "als kalte Politik" bezeichnen.

Da wollte Westerwelle noch einmal zornig sein, so, wie es seine Rolle in den vergangenen elf Jahren verlangt hatte. Offenbar war er wirklich zornig. Darüber, dass immer noch nicht alle in der Republik begriffen haben, welch liberale, ja soziale Handschrift der Koalitionsvertrag trägt: Kinderfreibetrag erhöht, Kindergeld erhöht, Schonvermögen für Hartz-IV-Empfänger verdreifacht, Steuerentlastungen auch für Gering- und Durchschnittsverdiener durchgesetzt - all das sei doch dank der FDP in den Vertrag hineingeschrieben worden, rief der Parteichef den mehr als 600 Delegierten zu. Und er musste es noch deutlicher sagen: "Wir haben ein Herz für die kleinen Leute." Als ob sich die Partei nicht längst verändert hätte, wollte Westerwelle in seiner ersten Rede als Fast-Regierender das Ende der Klientelpartei ein für alle Mal besiegeln.

Die Westerwelle-FDP, die sich gestern im Hangar 2 des früheren Flughafens Tempelhof zur Absegnung des schwarz-gelben Vertragswerkes zusammenfand, will mehr sein als eine starke Regierungspartei. Sie will auch Volkspartei sein. "Das ist ein Neuanfang", wiederholte der Parteichef mehrmals. Natürlich meinte er damit zuerst die neue Regierung, aber er meinte auch die Liberalen. All ihre 20 Kernforderungen hätte die Partei in dem Koalitionsvertrag untergebracht, fügte Westerwelle noch stolz hinzu. Dann sprach er von der Stärkung der Mittelschicht, von den Arbeitnehmern, den Arbeitslosen und der Bildung, auf die jeder ein Anrecht habe. Dieser Westerwelle war ganz weit weg von seinem einstigen Wettern gegen "staatlich bezahlte Faulheit". Und diese Westerwelle-FDP ist längst auf dem Weg von einer kleinen zu einer mittleren Partei, inhaltlich und vom Stimmenanteil sowieso.

Ihr Programm zur Bundestagswahl war nicht weniger weit gefächert als die Programme von Union und SPD. Am 27. September wurde sie quer durch alle Schichten gewählt. Unter den Arbeitern gaben 13 Prozent der FDP ihre Stimme, unter den Arbeitslosen waren es 10 Prozent. Nirgendwo mehr scheint die FDP das neoliberale Schreckgespenst zu sein. Sie ist in 15 von 16 Landesparlamenten vertreten, nur in Hamburg scheiterte sie knapp.

Und jetzt wird sie im Bund fünf Ministerposten bekleiden und 93 Bundestagsabgeordnete stellen. Die Zahl der Anhänger wächst stetig. Inzwischen hat sie mehr als 70 000 Mitglieder. In zahlreichen Landesverbänden hat die FDP längst den Status und die Größe einer Volkspartei. In Baden-Württemberg etwa holten die Liberalen in zahlreichen Orten mehr Stimmen als die SPD. Die kernige und volksnahe Birgit Homburger hat eine große Anhängerschaft in dem Bundesland. Jetzt wird sie als Fraktionschefin einen zentralen Posten in der Partei einnehmen. In Sachsen stellt die FDP inzwischen 30 Bürgermeister - mehr als SPD, Grüne und Linke zusammen. Auch im Saarland wählten überdurchschnittlich viele Arbeitslose bei der Landtagswahl am 30. August die FDP. Auch dort übernimmt die Partei Regierungsverantwortung im Jamaika-Bündnis. Und Landeschef Christoph Hartmann sagt, die FDP sei an dem ihr anhängenden Etikett "Partei der Besserverdienenden" selbst schuld, "weil wir uns vor 15 Jahren diese Bezeichnung gegeben haben". Funktionäre wie Hartmann wollen der Partei ein weicheres Gesicht geben. So ein weiches Gesicht der FDP ist auch Philipp Rösler. Der Arzt und künftige Gesundheitsminister sagt: "Die FDP war schon immer sozial, aber das wird jetzt deutlicher." Er ist überzeugt: "Die Stimmen und Themen in der Partei haben sich verändert." Er selbst trug dazu bei, als er in einem Thesenpapier mit dem provokanten Titel "Was uns fehlt" ein wohltätigeres Parteiprofil einforderte. Auch das war ein Schritt in Richtung Volkspartei.

In seiner Zeit als Wirtschaftsminister in Niedersachsen bekam Rösler immer wieder Briefe von Arbeitslosen. Die schrieben ihm Sätze wie: "Ich wähle jetzt FDP, weil das die Partei der Wirtschaftskompetenz ist. Und nur in der Wirtschaft gibt es neue Arbeitsplätze." In der FDP heißt es, man habe auch von einem Deutungswandel profitiert: Was früher als wirtschaftsliberale Arbeitgeberpolitik galt, werde heute als sozial verstanden. Alles, was den Menschen in Arbeit bringe, sei eben soziale Politik. Als selbstverständlich sieht es die Partei an, dass auch Arbeitslose einen Ortsverband führen.

Die FDP auf dem Weg zur Volkspartei - das Ziel hatte sich die Partei schon im Jahr 2000 gesetzt. Als erster hatte der nordrhein-westfälische Landesvorsitzende Jürgen Möllemann die Marschroute zum Größerwerden vorgegeben. Er forderte sogar einen eigenen Kanzlerkandidaten. Als er sein "Projekt 18" der Öffentlichkeit präsentierte, da hängte der für spektakuläre Auftritte bekannte Möllemann demonstrativ ein gelbes Schild mit der Aufschrift "18 %" vor das Rednerpult. Die FDP dürfe nicht länger "Hilfstruppe anderer Parteien" sein, sagte er kämpferisch. Möllemanns Idee übernahm später Westerwelle für den Bundestagwahlkampf 2002. Wie erfolgreich dieses Vorhaben war, ist bekannt. Damals war es der Versuch mit der Brechstange, weitgehend inhaltsleer und aufgebaut auf erste Wahlerfolge in den Ländern sich selbst groß zu reden. Nur die Wähler machten nicht mit. Die FDP von 2002 war noch zu sehr die FDP von 1998 geblieben.

Als damals die Liberalen nach drei Jahrzehnten des Regierens in die Opposition gingen, schienen sie eine Partei ohne Programm, ohne Visionen zu sein. Eine Zweitstimmenpartei, eine sinnentleerte Mehrheitsbeschafferin zum Wohle Helmut Kohls. In ihrem Bundestagwahlkampf hatte sie orientierungslos ein und dieselbe Warnung von sich gegeben: "Es ist Ihre Wahl, ob Rot-Grün Deutschland unberechenbar macht", sagte eine ernste Stimme im Wahlwerbespot zur Bundestagwahl. Der damalige Parteichef Wolfgang Gerhardt mahnte am Ende: Die Stimme für die FDP sei "die beste Garantie gegen Rot-Grün". Die FDP hatte keine Inhalte mehr - der 1:30-Minuten-Film war das beste Beispiel.

Die Wahl 1998 war kein Ausrutscher. Über Jahre hinweg hatte sich die FDP zu einer Partei gewandelt, die als Angstmacher vor neuen Konstellationen agierte. Sie stand noch für Steuersenkungen und für Bürgerrechte, aber viel mehr auch nicht. 1987 hämmerte die FDP auf den Mattscheiben der Republik den Slogan "Zukunft durch Leistung" in die Köpfe der Wähler, und in ihrem Wahlspot fielen die Begriffe "Leistung" und "leisten" lockere 15 Mal. Heute scheint es logisch, dass diese FDP eine abschreckende Wirkung entfaltete. Die Partei will daraus gelernt haben. Wie zeigte sich die FDP in ihrem Spot 2009? Da sprach Westerwelle energisch von der "Bildung als Bürgerrecht". Und "Leistung", dieses Wort fiel nur einmal.