David ist erst neun. Und betreut seine Eltern, die an multipler Sklerose leiden. Antje Windmann über einen Jungen, dessen Schicksal Hunderttausende in Deutschland teilen - und das trotzdem kaum beachtet wird.

Ein Nachmittag im Spätsommer. Es ist kurz nach vier, Sonnenlicht fällt auf die Terrasse einer Erdgeschosswohnung in Alt-Osdorf.

Es klingelt. David ist aus der Schule zurück. Sein Vater Burkhard drückt auf einen Knopf, automatisch gehen die Haus- und die Wohnungstür auf.

David stürmt herein. Seine braunen Haare sind verschwitzt, strubbelig. "Ich hab` Gas gegeben", sagt der Neunjährige, wirft seinen Fahrradhelm in die Ecke und umarmt seine Mutter Barbara, die ihm den Schulranzen und die Jacke abnimmt.

Der Kaffeetisch ist draußen gedeckt. Es gibt Pflaumenkuchen und kleines Blätterteig-Gebäck, das David so mag. Der Junge sieht sofort, dass noch ein Stuhl fehlt, unaufgefordert holt er einen aus der Küche.

Dann erzählt er atemlos von seinem Tag. David geht in die vierte Klasse, ist ein guter Schüler. Seine Eltern hören ihm aufmerksam zu, lächeln ihn an. Obwohl Burkhard Mirsch (45) und Barbara Rübesam (40) getrennt leben, sind sie eine Familie geblieben. Ohne diesen Zusammenhalt würde alles über ihnen zusammenbrechen.

Davids Vater sitzt im Rollstuhl. An manchen Tagen kann der gelernte Tischler nicht mal das Telefon halten, so kraftlos sind seine Hände.

Wenn Davids Mutter geht, unsicher, wackelig, zieht sie ihr linkes Bein hinterher. Dunkle Locken umschmeicheln ihr feines Gesicht, David hat die gleichen Pralinenaugen wie sie. Er streichelt ihren Rücken, wenn sie weint. Das tut sie oft, in letzter Zeit.

Davids Eltern haben MS, multiple Sklerose, in unterschiedlichen Stadien. Nervenstrukturen des Gehirns, des Rückenmarks und der Sehnerven sind entzündet, dadurch kommt es zu Lähmungen, Schmerzen, Seh- und Gefühlsstörungen. MS ist eine chronische Krankheit und unheilbar. Um Kraft für den Alltag zu schöpfen, müssen sich Davids Eltern am Tag immer wieder ausruhen, hinlegen. Beide leben von Erwerbsunfähigkeitsrente.

Auch David leidet unter dieser Krankheit, weil sie ihm immer mehr von seinen Eltern raubt und damit ein Stück seiner Kindheit. "In unseren Köpfen schlafen Tiere. Nur manchmal wachen sie auf, dann geht es uns nicht so gut." So hat Barbara Rübesam ihrem Sohn MS erklärt, als er das erste Mal fragte, warum seine Eltern nicht rennen konnten. Damals war er vier Jahre alt.

David vermisst das. "Ich würde gerne mal mit ihnen rumtoben", sagt er. Stattdessen schiebt er seinen Vater Anhöhen hoch, läuft voraus, wenn der Bus kommt, um die Rolli-Hebebühne auszufahren, reicht ihm die Lupe, damit er lesen kann. Burkhard Mirsch hat nur noch acht und 15 Prozent Sehkraft auf seinen Augen. "Damit er ein dickes Buch halten kann, schneide ich es mit einem Küchenmesser in mehrere Teile", sagt er. Manchmal liest David ihm vor, wenn er an den Wochenenden bei ihm ist.

David lebt mit seiner Mutter in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in Ottensen. Fürs Aufschrauben der Marmeladengläser ist er zuständig, und fällt ihr die Gabel aus der Hand, wie vorhin, als sie ihren Pflaumenkuchen essen wollte, hebt David das Besteck auf, reicht es ihr. Er füllt die Lücken, die sich im Alltag auftun. "Ich würde ihm gerne mal Pfannkuchen backen", sagt die gelernte Krankenschwester. Eine Bratpfanne kann sie nicht mehr halten.

Ihr Leben öffentlich zu machen, die Details, die von ihren Schwächen zeugen, preiszugeben - Barbara Rübesam und Burkhard Mirsch haben lange mit sich gerungen, ob sie das wirklich wollen. Die Furcht, wegen ihrer Behinderungen als schlechte Eltern wahrgenommen zu werden, ist groß. "Aber wenn niemand darüber spricht, wird sich an der Situation von Familien wie unserer nichts verbessern, werden wir keine Unterstützung bekommen", sagt Burkhard Mirsch.

Experten schätzen, dass rund 225 000 Kinder zwischen fünf und 18 Jahren einen Elternteil oder Angehörigen, der chronisch krank oder behindert ist, pflegen beziehungsweise bei der Pflege helfen. In wissenschaftlicher Literatur ist der Fall einer Fünfjährigen beschrieben, die ihre rheumakranke, alleinerziehende Mutter zur Toilette bringt, ihr zu essen und zu trinken reicht. Oder der Fall einer 14-Jährigen, die ihre Eltern und jüngeren Geschwister betreut, den Haushalt macht und nebenbei zur Schule geht.

Extremfälle, ja, aber keine Ausnahmen.

Nach zwei Mini-Schoko-Croissants hat David genug. Immer wieder schaut er Richtung Hecke. Die Stimmen der Kinder vom nahe liegenden Fußballplatz locken ihn. Sein Vater nickt, in einer halben Stunde soll er zurück sein. David krabbelt durch ein Loch im Gestrüpp.

Seine Eltern sprechen über sich. 1996 haben sich die beiden bei einem MS-Selbsthilfetreffen kennengelernt. Beide hatten gerade die Diagnose bekommen. "Burkhard hatte einen beigen Fleece-Pulli mit Kaffeeflecken an", erinnert sich Barbara Rübesam. "Und ich meinte: Na super, selbst die kann ich nicht mehr sehen", sagt Burkhard Mirsch. Das hat ihr gefallen.

Als Barbara Rübesam drei Jahre später trotz Verhütung schwanger wurde, standen sie vor einer schwierigen Entscheidung: Was tun?

Kein Humangenetiker konnte ihnen sagen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit sei, dass sie ihrem Kind MS vererben würden. "Die Wahrscheinlichkeit, wenn ein Elternteil krank ist, liegt unter zehn Prozent", sagt Burkhard Mirsch. Das Paar entschied sich für das Kind.

Ob David auch die Krankheit hat, wird sich erst zeigen, wenn er älter wird. Die ersten Symptome treten zwischen 20 und 40 Jahren auf.

Ein Rascheln in der Hecke. David war höchstens zehn Minuten weg. Er hat keinen zum Spielen gefunden. "Man kann sich sein Schicksal nicht aussuchen", sagt er. Sein Blick streift den Rollstuhl seines Vaters, die Gehstöcke seiner Mutter, verliert alles Verschmitzte, Schelmische. Leise fügt er hinzu: "Ich find's ungerecht, dass meine Mutter und mein Vater krank sind."

Auf die Frage, wie es ihm geht, antwortet David immer: "Gut". Sagt seine Mutter. "David weint auch nicht." Es hat etwas Flehendes, wie sie es sagt, als würde sie es sich manchmal wünschen, als Erleichterung für ihn.

Trotz allem ist auch ganz viel Normalität in Davids Leben. Zweimal die Woche spielt er Hockey. Abwehr. Ist am Wochenende ein Turnier, nehmen ihn die Eltern von Mannschaftskollegen mit. Sieht man ihn auf dem Spielfeld, würde niemand vermuten, dass hinter diesem Wildfang nicht ebenso aktive Eltern stehen. Statt Fußball spielt Davids Vater mit ihm Schach, Karten oder Monopoly, daran haben beide Spaß. Machen sie einen Ausflug, fahren sie mit dem Bus nach Ottensen, dort im Einkaufszentrum gibt es eine Behindertentoilette. Jedes Jahr zu Weihnachten besuchen Vater, Mutter und Sohn das Theater. "Dieses Jahr gucken wir Arielle, die kleine Meerjungfrau", sagt Burkhard Mirsch.

Es ist kühl geworden auf der Terrasse. "David, wir müssen los", sagt Barbara Rübesam und bestellt ein Taxi. Im Flur verabschiedet sich David von seinem Vater, küsst ihn auf die Wange. An der Wand hängt eine Postkarte. Darauf steht ein Spruch von Vincent van Gogh: "Als Maler werde ich nie irgendwie von Bedeutung sein, das spüre ich, ganz entschieden." Barbara Rübesams Augen füllen sich mit Tränen. Genau das fühle sie, sagt sie. Da könnten ihr 100 Leute sagen, dass sie eine gute Mutter ist. "Ich bin ein Klotz am Bein meines Kindes", flüstert sie, sodass es David nicht hört. Burkhard Mirsch blickt auf die gefalteten Hände in seinem Schoß.

Zu Hause in Ottensen. David steht schon längst vor der Wohnungstür im dritten Stock, während seine Mutter noch mit der ersten Treppe kämpft. Ihre Einkäufe lässt sie sich liefern, zusätzlich fährt alle zwei Wochen ein Zivi der Deutschen Multiplen Sklerose Gesellschaft mit einem gelben VW-bullig vor, um mit ihr Besorgungen zu machen.

"Mach mal schneller, Isabella", ruft David von oben. Beide lachen. "Der Witz ist ein Insider", sagt David.

Er wünscht sich einen Freund in seiner Nähe, einen, zu dem er mal eben zum Spielen gehen könnte. "Dann wäre ich nicht mehr so allein", sagt David.

"Manchmal frage ich mich, ob sich David erinnert, dass ich früher auch mal gerannt bin", sagt Barbara Rübesam. Vor dem Einschlafen liest David am liebsten die Bücher über die Abenteuer der Zeitdetektive, vier Kinder, die in die Vergangenheit reisen können. Manchmal macht er sich vor dem Einschlafen auch Sorgen. Wie es weitergeht, wenn seine Mutter auch im Rollstuhl sitzt. "Ich frage mich, was passiert, wenn es bei meinem Vater brennt", sagt David. "Er kann ja nicht schnell rauslaufen. Und selbst wenn er es auf die Terrasse schafft - was, wenn vom Balkon darüber etwas Brennendes auf ihn runterfällt?"

Barbara Rübesam träumt von einem Wohnprojekt, in dem Menschen in ähnlicher Situation unter einem Dach leben. Wo viel Verständnis und Hilfe da ist, nicht mehr jede Familie in ihrem Mikrokosmos gefangen ist. Es selbst zu initiieren, dafür habe sie keine Kraft, sagt sie. "Mein Leben fühlt sich so an, als würde ich im Stau stehen und müsste die ganze Zeit Vollgas geben." Zurzeit kämpft sie darum, eine rollstuhlgerechte Wohnung zu bekommen. Davids Vater hat zwei Jahre auf seine gewartet, trotz eines Dringlichkeitsscheins. Vergangene Woche bekam Burkhard Mirsch einen Anruf. Eine Wissenschaftlerin des Uniklinikums Eppendorf teilte ihm mit, dass die MS-Studie, an der seit zweieinhalb Jahren teilnimmt, eingestellt wird. Die Forscher haben ein Medikament an Patienten getestet, die wie er unter einer speziellen MS-Form leiden. Das Mittel wirkt nicht.

"Wenn irgendwann ein Mensch etwas gegen diese Krankheit erfindet, dann erschieße ich ihn", sagt David. "Weil er es nicht früher erfunden hat."