Die Hamburger Psychotherapeutin Martina Pott (49) arbeitet mit Kindern chronisch kranker und behinderter Eltern.

Hamburger Abendblatt:

Können sich diese Kinder überhaupt gesund entwickeln?

Martina Pott:

Absolut! Kinder werden oft unterschätzt in ihren Copingstrategien, wie sie mit schwierigen Lebenssituationen umgehen. Zudem haben die betroffenen Eltern oft eine hohe Sozialkompetenz, sie kümmern sich bewusst um ihre Kinder, schenken ihnen Beachtung und lehren sie Respekt vor dem Leben. Kranke Eltern sind also keine schlechten Eltern. Ein behinderter Vater kann ein besserer Vater sein als ein Mann, der ständig von Konferenz zu Konferenz eilt, das Leben seines Kindes nur aus Erzählungen kennt.

Abendblatt:

Wie beeinflusst Krankheit oder Behinderung eines Elternteils ein Kind?

Pott:

Kleinere Kinder fühlen sich noch groß und stark, wenn sie Mami oder Papi mal ein Glas Wasser bringen. Schulkinder haben manchmal magische Ideen: Habe ich meine Mutter oder meinen Vater krankgemacht? Sie achten darauf, ihre Eltern zu schonen. In der Pubertät quälen Jugendliche manchmal Schuldgefühle: Darf ich gesund und glücklich werden, wenn meine Eltern so krank sind?

Abendblatt:

Wann ist die Entwicklung eines Kindes gefährdet?

Pott:

In Extremfällen. Wenn pflegerisches Handeln, wie Essen anreichen, Windeln wechseln, Duschen und Waschen der Eltern sowie die Verantwortung für den Haushalt oder jüngere Geschwisterkinder den Alltag eines Kindes prägt.

Abendblatt:

Mit welchen Problemen sind die Familien konfrontiert?

Pott:

Abgesehen von der emotionalen Belastung, sind es häufig finanzielle Probleme - durch den dauerhaften Verdienstausfall eines Elternteils. Hinzukommt, dass diese Familien häufig stigmatisiert sind, die Kinder von der Gesellschaft mitbehindert werden. Das verschlimmert ihre Situation.

Abendblatt:

Welche Unterstützung erfahren die Familien?

Pott:

Sehr wenig, da es für sie kein Bewusstsein gibt. Eltern krebskranker Kinder, zum Beispiel, werden schon nach der Erstdiagnose im Krankenhaus psychologisch betreut. Es gibt auch vergleichsweise viele Hilfsangebote für Eltern mit behinderten Kindern. Im umgekehrten Fall ist das nicht so. Durch einen speziellen Krankenkassen-Fonds könnte diesen Familien in Notsituationen unbürokratische Hilfe geleistet werden. Daraus könnten auch notwendige Beratungsangebote für die Kinder finanziert werden. Was den Familien oft am meisten fehlt, ist ein enges soziales Netzwerk aus Nachbarschaft oder Freunden. Diese Familien sind oft sehr isoliert.