Nicole (23) nimmt es selbst mit Piraten auf: Sie ist eine von derzeit nur zwei Frauen, die es zum Spezialeinsatzkommando der Deutschen Marine geschafft haben. Ein Report von Miriam Opresnik.

Manchmal, wenn Nicole ihre schusssichere Weste anlegt und die Waffe überprüft, fragt sie sich, was eigentlich aus der Frau geworden ist. Dieser Frau, die sich einst bei der Bundeswehr beworben hat, abgelehnt wurde und sich eingeklagt hat. Diese Frau, von der sie noch nicht mal den Namen weiß, die aber vor dem Europäischen Gerichtshof durchgesetzt hat, dass auch Frauen Dienst an der Waffe leisten dürfen.

Doch spätestens, wenn der Einsatz beginnt und Nicole das Signal "Boarding, Boarding, Boarding" bekommt, zählt nur noch der Moment. Der nächste Schritt. Das Abseilen aus dem Helikopter auf ein feindliches Schiff, das Kontrollieren der Mannschaft.

Vergangenheit und Zukunft werden ausgeblendet. Gedanken verbannt. Weil jede Ablenkung Gefahr bedeuten würde. Für sie und ihr Team. Das Team "Charlie" der Spezialisierten Einsatzkräfte der Deutschen Marine - dem SEK M. Es ist ein Verbund für Sondereinsätze, eine Art Elite. Minentaucher, die Bomben und Sprengsätze entschärfen. Kampfschwimmer, die bei verdeckten Aufklärungsaktionen eingesetzt werden. Boardingsoldaten wie Nicole, die für das Kontrollieren von verdächtigen Schiffen zuständig sind - zum Beispiel im Rahmen der Pirateneinsätze.

Das SEK M ist nichts für alle. Aber für die Besten. So steht es in einer Imagebroschüre der Marine.

Nicole ist keine wie alle. Aber eine der Besten. Sie ist 23 Jahre alt und eine von zwei Frauen in der Einsatzkompanie des SEK M. Größe des Verbandes: 400 Mann . Sagt man. Selbst in Zeiten von Gleichberechtigung und Emanzipation. Die alten Begriffe sind geblieben. Und mit ihnen viele Gewohnheiten. Klischees. Vorurteile.

Nicole kennt sie alle. Die Vorurteile, dass nur Mannsweiber Dienst an der Waffe leisten. Emanzen. Dass Frauen beim Bund nichts zu suchen haben.

Deswegen stellt sie sich an diesem Tag nur mit Vornamen vor. Damit sie und ihre Familie nicht belästigt werden. Denn auch das gehört zum Leben eines Soldaten. Egal ob Frau oder Mann. Dass sie beschimpft werden, bedroht. Von Bundeswehrgegnern.

Aus der Oberstabsgefreiten wird Nicole. Oder Nici, wie sie alle im Team nennen. Im Team spielen Nachnamen und Titel keine Rollen. Und das Geschlecht sowieso nicht. "Im Team zählt nur der Zusammenhalt", sagt Nicole. Das hat sie schon immer am Bund gereizt. Die Kameradschaft - und das Abenteuer. Das Abenteuer, mit Speedbooten an fremde Schiffe heranzufahren und diese zu kontrollieren. Mit der Waffe in der Hand und Adrenalin im ganzen Körper. "Ich konnte mir nicht vorstellen, im Büro oder im Kindergarten zu arbeiten und jeden Tag dasselbe zu machen. Ich wollte was erleben", sagt Nicole. Und genau das tut sie. Bei der Bundeswehr. Beim SEK M. Jeden Tag. Egal ob sie bei einem Pirateneinsatz ist oder in der Kaserne Eckernförde den Ernstfall trainiert. So wie heute.

Um 7 Uhr tritt das Team "Charlie" um Nicole und ihre neun Kameraden im Block 15 zum Sportprogramm an. 50 Liegestütze, 50 Sit-ups und Bankdrücken mit 50 Kilo-Gewichten. Hintereinander. Jeden Morgen. Manchmal geht es danach zum 5000-Meter-Lauf, manchmal zum Schwimmen in voller Montur. Die Vorgabe: 300 Meter in acht Minuten. Egal ob Mann oder Frau. Ausnahmen gibt es für Nicole nur bei Klimmzügen. Zehn Stück müssen Soldaten der Boardingkompanie schaffen, Nicole vier. "Alles andere ist für Frauen aufgrund des anderen Körperaufbaus kaum möglich. Es sei denn, man trainiert so lange, bis man keine Frau mehr ist." Doch das will sie nicht. Denn egal, welche Vorurteile es über Mannsweiber bei der Bundeswehr gibt - Nicole ist gerne Frau und will das auch zeigen. Sie hat lange Fingernägel und trägt Kleider genauso gerne wie den Kampfanzug. Ein Püppchen ist sie aber nicht. Das ist ihr ganz wichtig. "Solche Frauen brauchen wir hier nicht", sagt sie. Irgendjemand hat sie mal als Lara Croft bezeichnet. Doch Nicole will nicht mit einer Figur aus einem Computerspiel verglichen werden. Weil Bundeswehr kein Spiel ist.

"Bei uns geht es um reale Einsätze und reale Risiken. Da ist kein Platz für Rambos", sagt Kapitänleutnant Christian Dürr (33), Chef der Boardingkompanie. Seit er vor 14 Jahren zur Bundeswehr gegangen ist, hat er nur sechs Frauen in der Einsatzkompanie erlebt, nur zwei davon haben die Ausbildung geschafft. Bei den Männern sind es sechs von zehn.

Nicole ist eine Ausnahme. Keine wie alle. Sondern eine der Besten. Eine von 16 300 Zeit- und Berufssoldatinnen. Insgesamt liegt der Frauenanteil bei der Bundeswehr zwischen sechs und sieben Prozent - bei den Amerikanern sind es 15,4 Prozent. "Es gibt keinen Anlass zur Selbstzufriedenheit", resümiert daher auch der jüngste Bericht des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr zum Thema "Frauen in der Bundeswehr". Das Fazit: Obwohl Frauen ein unverzichtbarer Bestandteil der Streitkräfte geworden seien, beurteilten laut Umfrage 30 Prozent der Männer die Leistungen von Soldatinnen schlechter als die von Soldaten.

Manchmal, wenn Nicole sich auf einen Einsatz vorbereitet, fragt sie sich, wie es zu solchen Vorurteilen kommen kann. Warum einige Soldaten immer noch ein Problem mit Frauen bei der Bundeswehr haben und andere nicht. So wie die Männer aus ihrem Team. Für die Soldaten ist es normal, eine Frau im Team zu haben. Denselben Waschraum zu benutzen und beim Duschen ein Schild an die Tür zu hängen, auf dem steht: "Mann duscht" oder "Frau duscht". Und für sie ist es normal, einer Frau ihr Leben anzuvertrauen. Von ihr Rückendeckung zu bekommen - und im Ernstfall versorgt zu werden. Denn Nicole ist der Medic des Teams - die "Lebensversicherung", wie einige sie nennen. Sie ist für die Erstversorgung der Verletzten zuständig. Sie legt Zugänge, schient Brüche, näht Wunden. Sie rettet Leben.

Routine gibt es keine. Weil Routine zu Sorglosigkeit führt. Weil Routine eine Gefahr für das ganze Team wäre. Deswegen werden immer andere Szenarien geprobt, andere Fähigkeiten geschult. Mal üben die Soldaten das Schießen und den waffenlosen Kampf, mal simulieren sie einen Hubschrauberabsturz und müssen sich in voller Montur im Wasser in Sicherheit bringen. Heute geht es um das Durchsuchen und Sichern eines verdächtigen Schiffes. Nachdem sich die Soldaten von einem zwölf Meter hohen Turm abgeseilt haben, geht es in den Keller des Gebäudes. Zur Übung. Doch die Bedingungen sind real. Die 18 Kilo schwere Ausrüstung. Die schusssicheren Westen. Die Waffen. Es sind G36K. Gewehre mit kurzem Lauf, die besonders für den Einsatz in engen Räumen geeignet sind. Auf Schiffen.

Der Gang ist verlassen, die Türen sind verschlossen. Raum für Raum tasten sich Nicole und ihr Team vor. Rücken an Rücken, mit vorgehaltenen Waffen. So, wie sie es auch in der Realität machen würden. Denn das hier ist in diesem Moment die Realität. Zumindest für zwei Stunden. So lange, bis das Team die fremden Besatzungsmitglieder gefunden und durchsucht hat. Bis Nicole den offenen Bruch eines Verletzten geschient und verbunden hat. Bis das Team in Sicherheit ist. Und die Mittagspause beginnt.

Zeit für Nicole zum Reden. Zum Erzählen. Von ihrer Kindheit in Kühlungsborn, als sie mit Puppen gespielt und davon geträumt hat, Tierärztin zu werden. Von den Jungs aus ihrer Clique, die irgendwann eingezogen wurden und ihr von der Kameradschaft beim Bund vorgeschwärmt haben. Und von ihrem Wunsch, das auch zu erleben. "Mein Vater wollte allerdings, dass ich erst mal was Anständiges mache", sagt Nicole. Also machte sie eine Ausbildung als Erzieherin - und ging eine Woche nach Ende der Ausbildungszeit zum Bund. Voller Hoffnung, voller Erwartungen. Doch die Anfangszeit sei schwierig gewesen, sagt Nicole und erzählt von alteingesessenen Soldaten, die noch nie mit Frauen gedient hatten und sich erst an diese gewöhnen mussten. Und die Frauen an sie. Inzwischen freut sich Nicole nach jedem Urlaub auf die Rückkehr in die Kaserne. Und auf ihre Jungs. Seit einiger Zeit teilt sie sich zwar mit einer anderen Soldatin eine Wohnung in Eckernförde, doch ihre Stube in der Kaserne hat sie behalten. Weil es irgendwie dazugehört. Zu ihrer Welt. Es ist eine eigene Welt. Ihre meisten Freunde sind bei der Bundeswehr. Ihr Freund auch. Sie hat ihn in einer Disco kennengelernt. Dass er auch bei der Marine ist, war Zufall. Ob er dadurch mehr Verständnis hat? Nicole zuckt die Schultern. Vielleicht. Aber das werde sich erst zeigen, wenn sie das nächste Mal auf Tour geht. Vier Einsätze und Touren hat sie bereits gemacht, eine davon war sechs Monate lang im Rahmen der Anti-Terror-Operation "Enduring Freedom". Ende des Jahres geht es wieder los.

Nicole ist eine Vorzeigesoldatin. Ein Musterbeispiel dafür, dass auch Frauen für den aktiven Militärdienst geeignet sind. Und trotzdem: Wenn die ersten Frauen im Jahr 2013 Führungspositionen im Truppendienst der Bundeswehr einnehmen, wird Nicole nicht dabei sein. Denn Nicole wird ihren Dienst bei der Bundeswehr 2011 beenden. Dann will sie heiraten, eine Familie gründen. Kinder bekommen. So wie die meisten Frauen. Das geht bei der Bundeswehr aber nicht. Glaubt sie. Aber draußen. Außerhalb des Kosmos Bundeswehr. Außerhalb der Welt, die dann acht Jahre ihr Leben war. Bereits im nächsten Jahr beginnt Nicole mit dem Berufsförderungsdienst, der sie auf die zivile Arbeitswelt vorbereiten soll. Am liebsten würde sie Rettungssanitäterin werden. Oder OP-Schwester. Irgendwas Medizinisches. Irgendwas, das sie drinnen gelernt hat und draußen gebrauchen kann. Etwas, das sie an die Zeit bei der Bundeswehr erinnert.

Eine Zeit, die sie Tanja Kreil zu verdanken hat. Jener jungen Frau, die einst von der Bundeswehr abgelehnt wurde und deren Fall vor dem Europäischen Gerichtshof landete und zu einer Änderung des Grundgesetzes führte. Jener jungen Frau, die Tausenden anderen den Weg in die Bundeswehr bereitet hat. Und jener jungen Frau, die schließlich selbst nie zur Bundeswehr gegangen ist.