Özdemir kritisiert Vorbehalte gegen EU-Mitgliedschaft und schließt ein Bündnis mit der Linkspartei aus.

Hamburg. Abendblatt:

Sie haben für mehr Türkisch-Unterricht an deutschen Schulen geworben. Ist es nicht die viel größere Herausforderung, dass alle Kinder beim Schuleintritt Deutsch sprechen?

Cem Özdemir:

Absolut, das ist völlig richtig, genau das habe ich auch in dem von Ihnen angesprochenen Interview deutlich gemacht. Ich verstehe nur nicht, wieso man das eine tun und deshalb das andere lassen sollte? Es geht doch insgesamt um mehr Sprachkompetenz. Dafür muss vor allem viel mehr unternommen werden, damit alle Kinder, die hier leben und aufwachsen, Deutsch sehr gut beherrschen. Aber warum sollten wir denn deshalb Sprachkompetenzen, die vom Migrationshintergrund eines Kindes herrühren, brachliegen lassen, statt auch sie zu fördern? Der Versuch, das eine gegen das andere zu stellen und damit Stimmung zu machen, zeigt aber, dass solche Fragen hierzulande immer noch gern schnell mit Ressentiments aufgeladen werden.



Abendblatt:

Sie fühlen sich missverstanden?

Özdemir:

Das nicht. Ich würde mir nur wünschen, dass solche Debatten mit mehr Ernsthaftigkeit geführt werden. Die Amtssprache Deutsch muss jeder können, das sage ich seit vielen Jahren. Aber in einer globalisierten Welt ist es ein großer Vorteil, wenn möglichst viele Menschen mehrere Sprachen gut beherrschen. Leider sind etliche Schüler sowohl in der Amts- als auch in ihrer Muttersprache miserabel. Das muss sich ändern.



Abendblatt:

Bedauern Sie den Wirbel, den Sie ausgelöst haben?

Özdemir:

Ich freue mich über jede Debatte, die Defizite unseres Bildungssystems benennt, da dadurch hoffentlich Bewegung in den notwendigen Ausbau der Bildungsinfrastruktur kommt.



Abendblatt:

Sind Sie der Meinung, dass es in Deutschland auch türkischsprachige Radio- und Fernsehsender geben sollte?

Özdemir:

Klar, warum denn nicht, genauso wie zum Beispiel russischsprachige oder englischsprachige. Das ist schon aufgrund der Pressefreiheit selbstverständlich. Es gibt hierzulande aber offenbar immer noch Probleme mit dem T-Wort. Türkisch wird zu oft als Unterschichtensprache wahrgenommen. Das stigmatisiert, und Brücken lassen sich so nicht bauen. Manche Unions-Politiker beschreiben nur gern, was ihrer Ansicht nach falsch läuft, statt mitzuhelfen, dass Integration gelingt. Eine ähnliche Haltung beobachte ich, was die EU-Beitrittsperspektive der Türkei betrifft. Da gibt es einige, die freuen sich geradezu über Defizite in der Türkei - weil sie helfen, die angestrebte Mitgliedschaft zu verhindern.



Abendblatt:

Meinen Sie damit etwa Frau Merkel?

Özdemir:

Ich glaube, dass die Kanzlerin selbst die Vorteile eines EU-Beitritts der Türkei durchaus sieht, insbesondere die geostrategischen. Sie hat aber nicht den Mut, in Fraktion und Partei dafür zu werben.



Abendblatt:

Wer gibt jetzt bei den Grünen den Ton ab? Sie als neuer Vorsitzender, Frau Roth, oder doch die Spitzenkandidaten Renate Künast und Jürgen Trittin?

Özdemir:

Renate Künast und Jürgen Trittin werden die Grünen im Bundestagswahlkampf stärker nach außen repräsentieren, während Claudia Roth und ich die Partei nach innen organisieren und mobilisieren.



Abendblatt

Ist Schwarz-Grün wie in Hamburg auch eine Option für den Bund?

Özdemir

Die Union im Bund ist doch anders aufgestellt als Ole von Beust und die Hamburger CDU. Die Union muss sich entscheiden, ob sie auf Innovation und Klimaschutz setzt oder sich jetzt wegen der Finanz- und Wirtschaftskrise schnell schnöde davon verabschiedet, wonach es derzeit aussieht. Die Reformkräfte in der CDU/CSU sind in der Minderheit. Ich könnte mir eine Kooperation in der Theorie schon vorstellen: mit Rita Süssmuth als Beauftragte für Generationengerechtigkeit, Armin Laschet als Mann für Integrationsfragen und Klaus Töpfer für die Umwelt, da wäre etwas zu machen. Auch mit Frau von der Leyen, wenn sie die Herdprämie wieder zurücknimmt ...



Abendblatt:

Mit dieser Haltung steuern Sie geradewegs wieder auf die Opposition zu, falls es mit der schwächelnden SPD nicht reichen sollte. Und das Verhältnis der Grünen zur FDP ist ja auch nicht gerade berauschend.

Özdemir

Bei uns gehen die Inhalte vor Macht. Die SPD muss jetzt zusehen, wie sie aus dem Tal der Tränen herauskommt. Es ist nicht meine Aufgabe, mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Wir haben den Wunsch zu regieren, und damit das klappt, müssen wir Grüne so stark wie möglich werden. Die Liberalen müssen sich dann überlegen, ob sie weiter sklavische Gefangene der Union sein wollen.



Abendblatt:

Wie sieht es mit der Linkspartei aus?

Özdemir

Eine Partei, die sich angesichts des Krieges in Georgien oder der Finanzmarktkrise populistisch gegen Europa stellt, kann für uns nach der Bundestagswahl kein Partner sein.



Abendblatt:

In Hessen wollten Sie sich von den Linken tolerieren lassen. Wie sehr hat Ihnen das geschadet?

Özdemir:

Ich sehe keine Blessuren bei uns Grünen, sondern eine verstörte SPD, die sich in Flügelkämpfen zerrieben und sich als nicht regierungsfähig erwiesen hat. Wir mussten lernen: Andrea Ypsilanti beherrscht das kleine Einmaleins der Politik nicht.



Abendblatt:

Dann kommt ein von den Linken toleriertes rot-grünes Bündnis für Sie in Hessen nicht länger infrage?

Özdemir:

Dafür müsste ja erst einmal die SPD entsprechend stark werden. Auch müsste die Linkspartei wieder in den Landtag kommen. Wir kämpfen vor allem für ein starkes grünes Ergebnis, am besten dann mit unserem Mann Tarek al-Wazir als Ministerpräsidenten, das wäre doch auch für die SPD besser.