Die Uno hat sich eingerichtet, in Hamburgs früherer Landesvertretung ist jetzt eine Pizzeria, und in den Altstadtkneipen ist man fröhlich wie immer.

Bonn. Recht bequem, aber alles andere als luxuriös, dieser blaue Sessel auf der Regierungsbank. Aber er ist ja auch nicht zum Hinlümmeln oder Schlafen gedacht. Dafür hat er Geschichte. Bis vor ein paar Jahren saß hier der deutsche Außenminister, mehr oder weniger konzentriert den Debatten lauschend. Norbert Blüm nimmt auf dem Sessel daneben Platz. Es war der des Kanzlers. 16 Jahre lang hat Helmut Kohl dort gesessen, für kurze Zeit auch noch Gerhard Schröder.

Dann springt Blüm (73) auf, tritt ans Rednerpult. Der Bundesadler wacht an der Wand im Hintergrund. Mikrofon zurechtgerückt, mit dem silberfarbenen Druckknopf das Tischchen abgesenkt - wie in alten Zeiten, als Bonn noch der Nabel deutscher Politik war. Heute kann man den Saal mieten, für 11 100 Euro am Tag. Für Tagungen, Konferenzen oder etwas andere Betriebsfeiern.

"Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Leser des Hamburger Abendblattes", spricht der rüstige Pensionär Blüm spaßeshalber ins Mikro. Früher hat der CDU-Politiker an dieser Stelle oft seinen legendären Lieblingssatz gerufen: "De Rende sinn sischä."

Wie ein kleines Kind freut sich der langjährige Arbeitsminister über den spontanen Besuch an alter Wirkungsstätte. "Aber klar, Herr Blüm!", hatten die freundlichen Damen in der Portiersloge gerufen, ihm begeistert die Hand geschüttelt und Einlass gewährt. Nach wie vor ist sein Gesicht bekannt. Türen gehen auf, die sonst verschlossen blieben.

Auch vor dem alten Kanzleramt. Hier wirkten die Großen der Bonner Republik, hier begehrte Gerhard Schröder am Zaun rüttelnd um Einlass - bis ihm Volkes Wille 1998 endlich Zutritt verschaffte. Die beiden Sicherheitsmänner im Wachhäuschen lassen angesichts des bekannten Besuchers einen Moment die strengen Vorschriften beiseite: Nach herzlicher Begrüßung geht der Schlagbaum hoch. Vor der Bronzeskulptur "Large Two Forms" des Briten Henry Moore im Garten weist Blüm auf das Gebäudeensemble dahinter: "Ist nun das Entwicklungsministerium." Nur die Kanzlerbüros selbst dienen Angela Merkel noch als Zweitsitz. Sehr oft ist sie aber nicht hier. Weil die Musik in der alten und neuen Hauptstadt spielt, in Berlin. Bonn, so scheint es, hat die Geschichte hinter sich gelassen. Noch nicht mal auf der Wetterkarte der "Tagesthemen" ist es zu sehen. Dabei zählte deren "Bericht aus Bonn" einst zu den Flaggschiffen der ARD.

Bis auf die Deutsche Welle sind alle großen Medien abgewandert. Wo einst der "Spiegel" saß und nicht nur Franz Josef Strauß ärgerte, ist nun ein Frisiersalon, der auch Massagen anbietet. Der Kanzlerbungalow, in dessen Park seinerzeit Kohl und Gorbatschow über die Möglichkeit einer deutschen Wiedervereinigung sinnierten, wird gerade von einer Stiftung renoviert und soll bald für Besucher geöffnet werden. In den meisten Botschaften sind Außenstellen der Vereinten Nationen untergebracht. Oder private Firmen, vornehmlich aus den Sparten Logistik, Telekommunikation oder Solarenergie.

Bayerns und Baden-Württembergs Landesvertretungen stehen leer, und in Hamburgs ehemaliger Residenz werden beim Italiener Fortissimo Pizza & Pasta serviert. Im Abgeordnetenhaus, dem "Langen Eugen", arbeitet jetzt die Uno. Und so übermäßig lang wirkt "Eugen" (114 Meter) auch nicht mehr: Der neue Post-Tower nebenan ist ihm mit 112,50 Metern fast ebenbürtig. Nur wenig ist noch, wie es mal war, ehe die 315 000-Einwohner-Stadt als Parlaments- und Regierungssitz ausgedient hatte. Immerhin: Sechs von 15 Ministerien haben hier noch ihren Hauptsitz und mehr als 9100 Bundesbedienstete ihren Arbeitsort - 400 mehr als in Berlin.

Norbert Blüm denkt gerne an die Jahrzehnte Bonner Beschaulichkeit zurück. "Ich weine ihnen aber nicht nach", sagt er beim Bummel durch das ehemalige Regierungsviertel. "Bonn hängt nicht am Fliegenfänger, ist nach wie vor ansehnlich und kraftvoll, eine liebens- und lebenswerte Stadt." Getreu dem rheinischen Credo: "Et kütt, wie et kütt" ("Es kommt, wie es kommt.") Letztlich sei immer noch fast alles gut gegangen, und es gelte, aus jeder Situation das Beste zu machen.

Auf den ersten Blick scheint dies gelungen. Abgesehen vom schäbigen Bahnhofsareal sind Altstadt und Zentrum gut in Schuss. Mehr denn je. Gediegene Restaurants allerorten, herrliche Wanderwege am Rhein, viele Theater. Kunst und Kultur werden unverändert großgeschrieben. Die angestaubte Beethovenhalle, Erinnerung an den berühmtesten Sohn der Stadt, soll einem modernen Festspielhaus weichen. Großzügig unterstützt von Telekom, Post und Postbank, Bonns größten Arbeitgebern. Mit ihnen und 1,43 Milliarden Euro Ausgleichszahlung durch den Bund ist viel Stadt zu machen.

"Hier geht's richtig rund", sagt Blüm, auf eine Riesenbaustelle im Schatten des alten Abgeordnetenhauses weisend. Bis Sommer 2009 entsteht das World Conference Center. Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann (SPD) möchte ihre Stadt als Kongress-Metropole etablieren. "Bonn hat sich verändert. Deutsche Uno-Stadt, steigende Einwohnerzahlen, viele junge Familien, Geburtenüberschuss, eine weltoffene Atmosphäre, Sitz global agierender Unternehmen - Bonn ist und bleibt spannend", sagt sie dem Abendblatt. Klima-Tagungen oder Afghanistan-Konferenz sollen erst der Anfang gewesen sein. 17 Uno-Abteilungen und 150 nicht staatliche Organisationen sollen Humus für ein internationales Netzwerk sein. Erst kürzlich war Uno-Generalsekretär Ban Ki-moon zu Besuch, doch sind hohe Staatsgäste natürlich rar geworden. Immerhin garantiert die anno 1818 gegründete Universität, an der auch Heinrich Heine und Karl Marx immatrikuliert waren, mit 30 000 Stunden frischen Schwung.

Vier Kilometer sind die Bauzäune im früheren Regierungsviertel lang. Schräg gegenüber des Bundeshauses stoppt Norbert Blüm: Wo jetzt ein Betonmischer krachend rotiert, bot einst ein legendärer Kiosk seine Waren feil. Kaum einen Abgeordneten gab es, der hier nicht irgendwann einmal mit Polit-Kollegen plauschte, Zeitungen, belegte Brötchen, Frankfurter oder Dosenbier erstand.

Apropos. "Jetzt ein Kölsch!", lässt Blüm seine Seele sprechen. Bis zur Südstadt sind es nur wenige Fußminuten. Einer der Bonner Pluspunkte war und ist es, dass fast alles dicht beieinanderliegt. Das wissen auch Marita und Norbert Blüm zu schätzen. Seit 25 Jahren wohnen beide in einem gediegenen Altbau mit Jugendstil-Charme in der Weberstraße. Parkett, Stuck, Wendeltreppen, antikes Mobiliar, Ledersofas, moderne Kunst und ein ansehnlicher Garten tragen zur häuslichen Harmonie bei. In einer Theologie-Vorlesung hatten sie sich kennengelernt, später hörten sie auch bei Joseph Ratzinger, und am Alten Zoll am Rheinufer wurde Verlobung gefeiert. 46 Jahre ist das her.

Zielsicher steuert Blüm das "Treppchen" an, eine Schankwirtschaft mit weit mehr als 100 Jahren auf dem Buckel, Vertäfelung, soliden Holztischen. Ebenso wie im Gambrinus oder in der Schuhmann-Klause wurde hier hinter den Kulissen manche politische Strippe gezogen. Auch das ist vorbei. Neben Blüm wohnen auch Genscher, Graf Lambsdorff, Ehmke und "Münte" in Bonn. Man trifft sich gelegentlich, plaudert über vergangene, indes keineswegs vergessene Tage.

"Prosit!", sagt Blüm und hebt das Kölschglas, "Stange" genannt. Ja, Bonn habe als Hauptstadt Charme gehabt, sei bei allem Selbstbewusstsein bescheiden aufgetreten. In Berlin sei vieles etwas "großkotziger", mancher dort sitze auf einem hohen Ross: "Berlin ist Weltstadt, Bonn war Werkstatt." Es gebe keinerlei Grund, die restlichen Regierungsmitarbeiter aus dem Rheinland abzuziehen. "Es läuft doch", meint Blüm. "Eine teure Angelegenheit", moniert der Steuerzahlerbund. Reisen, Trennungsgelder, Arbeitsausfall der pendelnden Beamten summierten sich auf mehr als 40 Millionen Euro. Jährlich.

Erst mal noch ein Kölsch. Norbert Blüm, von vielen Gästen per Handschlag begrüßt, kommt zusehends in Fahrt. Er reichert das ohnehin fröhliche Gespräch mit Anekdoten der Bonner Ära an, die es so nie wieder geben wird.

Draußen vorm "Treppchen" kommt Sohn Christian vorbei. Er ist Schlagzeuger der kölschen Rockband "Brings", wohnt in der Nachbarschaft und holt Sohn Gilbert (3) von den Großeltern Blüm ab. Die älteste Enkelin, Lilli, ist schon zwölf Jahre alt. Zur Hochzeit später will ihr Norbert Blüm einen Auszug aus einem Bundestags-Protokoll von 1996 schenken. Das war, als Blüm während einer Parlamentsdebatte kurz vor Mitternacht von Lillis Geburt erfuhr und mit der guten Nachricht ans Rednerpult schreiten wollte, allerdings von Bundestagsvizepräsident Hans-Ulrich Klose ausgebremst wurde. Gut, dass ein SPD-Kollege gefunden wurde, der wenig später das Wort ergriff: "Ich habe dem deutschen Volk eine wichtige Mitteilung zu machen: Norbert Blüm ist Opa geworden!"

Solche Zeiten sind vorbei. Endgültig.