Sie saß in der Nationalversammlung, hatte maßgeblichen Anteil an der Aufhebung der Berlin-Blockade, stritt für eine bessere Sozialpolitik. Würdigung einer fast vergessenen Hamburgerin.

Hamburg/Berlin. Zwei Nächte, bevor am 24. Juni 1948 die Blockade Berlins beginnt, erhält Louise Schroeder einen Befehl. Es ist bereits Abend, die 61-Jährige sitzt in ihrem Zimmer im Berliner Bezirk Tempelhof, Boelckestraße 121. Sie wohnt zur Untermiete dort: Drei Jahre nach Kriegsende hat sie immer noch keine eigene Wohnung gefunden, wie viele andere Berliner auch. Doch sie ist nicht wie viele andere Berliner, seit Mai 1947 ist sie ihre amtierende Oberbürgermeisterin. Deshalb soll sie sofort in die sowjetische Zentralkommandantur kommen.

Am nächsten Morgen hat sich der Befehl an Louise Schroeder bereits in der ganzen Stadt herumgesprochen: Die Sowjets wollen in Gesamt-Berlin, inklusive der britischen, französischen und amerikanischen Zone, eine eigene Währung einführen - und Louise Schroeder soll den Befehl als Chefin der Verwaltung umsetzen. In einer hastig einberufenen Sondersitzung trifft der Magistrat im Neuen Stadthaus mitten im russischen Sektor zusammen. Während sich vor den Fenstern kommunistische Demonstranten mit Steinen und Stöcken bewaffnen, tritt Louise Schroeder ans Rednerpult: "Der Magistrat ist aber nicht in der Lage, so sehr ihm die einheitliche Verwaltung von Berlin am Herzen liegt, den russischen Befehl in den drei westlichen Zonen auszuführen." Als sich die Tore des Stadthauses öffnen, fliegen Steine, Autos werden umgestürzt. Louise Schroeder entkommt den Attacken nur knapp. Stunden später, um 6 Uhr morgens, unterbinden die Sowjets den Bahnverkehr zwischen Berlin und den Westzonen Deutschlands und kappen die Stromzufuhr. Seit Kriegsende schwelt der Konflikt zwischen West- und Ostblock - am 24. Juni 1948 entzündet er sich an Berlin.

Die eingekesselte Stadt wird fast ein Jahr lang von den Sowjets blockiert und von amerikanischen Rosinenbombern versorgt. Die zwei Millionen Berliner werden von einer Frau geführt, die um Freiheit und Nahrung kämpft und dabei "maßgeblichen Anteil an der Aufhebung der Berliner Blockade" (Brockhaus) hat. Als die Flugzeuge im Drei-Minutentakt in Tempelhof landen, schreibt der englische "Observer" im Juli 1948: "Unter allen deutschen Männern und Frauen, die im belagerten Berlin den Kampf für Freiheit und Demokratie aufgenommen haben, gibt es niemanden, der tapferer, bescheidener und gütiger kämpft als Louise Schroeder." 60 Jahre später ist es still um sie geworden, fast ist sie vergessen. Denn auch der Vater der Luftbrücke, US-General Lucius D. Clay, muss in seinen Memoiren feststellen: "Es war schwer, die Stärke in dieser ruhigen, mütterlich erscheinenden Frau wahrzunehmen."

Am 2. April 1887 wird sie in Altona geboren, als jüngste von vier Geschwistern. Louises Vater ist ein einfacher Bauarbeiter, ihre Mutter führt einen Gemüsekeller in der Völckerstraße. In diesem Keller macht die kleine Louise ihre Hausaufgaben. Eine höhere Schulbildung können ihr die Eltern nicht ermöglichen. Mit 16 verlässt sie die Gewerbeschule, damit sie ihr erstes Geld verdienen kann. Englisch und Französisch bringt sie sich selbst bei.

An der Binnenalster findet sie eine Stelle als Bürokraft bei einer Versicherung und steigt dort zur Privatsekretärin des Chefs auf.

1910 tritt sie in die SPD ein. Ihr Vater hatte sie schon als Kind zu Parteifesten und Maikundgebungen mitgenommen. Bereits bei ihrer ersten Rede vor Parteifreunden in Altona 1918 ist sie so überzeugend, dass die Genossen beschließen, sie in die Deutsche Nationalversammlung zu entsenden - Frauen haben gerade das Wahlrecht bekommen. So wird Louise Schroeder eine der ersten deutschen Parlamentarierinnen und verabschiedet die erste deutsche Verfassung. Sie kämpft für eine bessere Sozialpolitik und gründet die Arbeiterwohlfahrt mit. Das erste Mutterschutzgesetz wird von ihr geprägt und als "Lex Schroeder" bekannt.

In der Nazi-Zeit muss sie ihre politische Arbeit aufgeben. Als am 23. März 1933 die Reichstags-Abgeordneten für das Ermächtigungsgesetz und damit die Entmachtung des Parlaments stimmen sollen, schlägt Sozialdemokrat Karl Höltermann vor, sich nicht an dem Votum zu beteiligen: Vor dem Reichstag marschieren bewaffnete SA-Truppen auf, die Kommunisten sind bereits verhaftet worden. Da ergreift Louise Schroeder das Wort: "Auch du, Höltermann, hast hinüberzugehen und mit Nein zu stimmen wie wir alle. Ich sage euch, ich gehe, und wenn sie mich in Stücke reißen." Die Sozialdemokraten stimmen geschlossen gegen das Gesetz.

Das kleine Brotgeschäft, das sie inzwischen führt, weil sie keine Arbeit mehr bekommt, wird überwacht. Zweimal täglich muss sie sich bei der Polizei melden. Freunde raten ihr, nach Berlin zu ziehen. Dort ist sie nicht so bekannt und kann besser untertauchen. In der Hauptstadt findet sie eine Stelle als Sekretärin bei einem Gesinnungsgenossen.

Bei der Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 ist Louise Schroeder 58 Jahre alt. Nach den Strapazen des Krieges, bei dem sie kurz vor Ende verschüttet wurde, leidet sie an einer Magenkrankheit. Trotzdem baut sie die Berliner Arbeiterwohlfahrt auf, fördert die Gründung der SPD in der Stadt und wird zur Bezirks-Bürgermeisterin gewählt. Und die größte Herausforderung liegt noch vor ihr.

Die USA, Großbritannien, Frankreich und Sowjetunion teilen sich Berlin - allerdings immer weniger brüderlich. Die Machtansprüche von Ost und West führen zu einer ständigen Zerreißprobe: Als das Stadtparlament Ernst Reuter zum Oberbürgermeister wählt, verweigert die sowjetische Kommandantur ihre notwendige Zustimmung. Der einstige Kommunist Reuter ist für die Kommunisten nicht tragbar.

In der darauf folgenden Krise besinnt sich das Parlament auf die zierliche Frau mit den grauen Haaren. "Gerade die Persönlichkeit von Frau Schroeder", ruft SPD-Vorsitzender Franz Neumann den Abgeordneten zu, "bietet die beste Gewähr für eine reibungslose Lösung aller Aufgaben." Am 8. Mai 1947 wird Louise Schroeder vom Stadtparlament beauftragt, als Oberbürgermeisterin Berlins zu amtieren.

Im Oberbürgermeisterbüro im Stadthaus erwarten sie immense Aufgaben. Bereits im Winter 1946/47 sterben in Berlin 134 Menschen an Unterkühlung. 500 liegen mit Erfrierungen im Krankenhaus, 40 000 haben Frostschäden. Alleine im Januar 1947 nehmen sich 200 Berliner das Leben. Hinzu kommen die politischen Spannungen: Schroeder steht einer Gesamt-Berliner Verwaltung vor, die vornehmlich mit Kommunisten besetzt ist. Gleichzeitig wird sie von den Amerikanern gebeten, alles dafür zu tun, dass sich die Konflikte nicht verschärfen. Sie muss integrieren und gestalten, und genau das sind ihre Stärken.

Parteifreund Ernst Reuter macht ihr die Arbeit nicht immer leicht. Oft konsultieren die West-Alliierten ihn, und oft gibt er die Informationen nicht weiter. Doch mit der Zeit ergibt sich zwischen beiden eine effektive Arbeitsteilung. Reuter wirkt nach außen, stellt politische Forderungen auf, kämpft lautstark: "Ihr Völker dieser Welt, schaut auf diese Stadt!" Louise Schroeder macht die Arbeit, die anfällt.

Immer wieder hört sie davon, dass im Ostteil Berlins willkürlich Menschen verhaftet werden. Die Oberbürgermeisterin setzt sich persönlich beim sowjetischen Stadtkommandanten dafür ein, dass sie freikommen. Mit Erfolg. Täglich stapeln sich auf ihrem Schreibtisch Briefe, in denen Berliner sie um Hilfe bitten. Eine Frau schreibt: "Aus reiner Verzweiflung wende ich mich an Sie. Da alle meine Bemühungen, auf legalem Wege Brennmaterial für mein sieben Wochen altes Kind zu bekommen, erfolglos blieben, trete ich mit der Bitte an Sie heran, mir irgendwie zu helfen. Sie dürfen diesen Schritt nicht als Bettelei auffassen." Louise Schroeder bittet ihren Wirtschaftsstadtrat Gustav Klingelhöfer, tätig zu werden. In einem Brief an den Verbindungsoffizier der US-Militärregierung schildert er den Fall. Der Appell hilft. Die Kohle-Rationen für die Luftbrücke werden erhöht.

Während sich Louise Schroeder um die Sorgen der Berliner kümmert, muss sie gleichzeitig Politik machen. Schließlich war sie bereits am 20. Mai 1948 zur Präsidentin des Deutschen Städtetages gewählt worden. Als sich zwei Wochen nach Beginn der Berliner Blockade die Ministerpräsidenten der Länder vom 8. bis 10. Juli 1948 in Koblenz treffen, um über eine Verfassung für die junge Republik zu beraten, greift die Oberbürgermeisterin nachhaltig in die Debatte ein. Nach ihrem Rittersturz-Appell (benannt nach dem Tagungshotel, siehe unten) beschließen die Länderchefs, keine Verfassung, sondern erstmals ein Grundgesetz auf dem Weg zu bringen, um den provisorischen Charakter der geteilten Republik hervorzuheben.

Als die Blockade am 12. Mai 1949 von den Sowjets aufgehoben wird, versammeln sich Tausende Menschen vor dem Schöneberger Rathaus. Ernst Reuter redet, später Konrad Adenauer und Carlo Schmid. Als die Versammlung aufgehoben werden soll, erklingen plötzlich Sprechchöre, die immer lauter werden: "Lou-i-se! Lou-i-se!" Der zierlichen Frau auf dem Rathausbalkon laufen die Tränen über das Gesicht. Sie ist nicht als Rednerin vorgesehen. Doch die Zuhörer lassen nicht locker: "Lou-i-se! Lou-i-se!" Die Berliner haben sie nicht vergessen. Dabei musste sie während der Blockade zwischenzeitlich mit dem Rosinenbomber nach Hamburg ausgeflogen werden, weil ihr Herz nicht mehr vollständig durchblutet wurde. Sie tritt ans Mikrofon und hält aus dem Stegreif eine Rede, wie sie die Blockade erlebte: "Manchmal hat mein Herz gezittert."

Am 4. Juni 1957 stirbt Louise Schroeder mit 70 Jahren in Berlin. Tausende Menschen säumen bei dem Staatsbegräbnis die Straßen der Stadt. Begraben wird sie kurz darauf in ihrer Heimat, in Altona, wo sie als Arbeiterkind aufwuchs. "Niemals hat bis jetzt eine deutsche Frau eine so wichtige Stellung innegehabt", schrieb die "New York Times" im Mai 1948 über Louise Schroeder: "Da, wo Männer aller Parteien Fehlschläge erlitten, gelang es ihr, Erfolge zu erzielen."