Die Verurteilung der U-Bahn-Schläger von München entfacht erneut die Diskussion um gewalttätige junge Menschen.

Hamburg. Anerkennung ist ein wichtiger Begriff im Leben von Hülya Sahin. Daraus leitet sie so etwas ab wie eine Gleichung des Lebens. Sie lautet zusammengefasst so: Man sucht sich ein Ziel im Leben, das man mit Disziplin und Nachdruck verfolgt. Wenn man es erreicht hat, erhält man Anerkennung. Für die 34-Jährige ist diese Gleichung aufgegangen. Die Berufsboxerin mit türkischen Wurzeln ist ungeschlagene Weltmeisterin im Halbfliegengewicht.1,60 Meter klein, 48 Kilo - klein, stark, schnell. "Boxen ist mein Leben", sagt sie. Es ist die Richtung, die sie ihrem Leben gegeben hat, die Richtung, die sie gebraucht hat.

Wenn nun die Verurteilung der beiden sogenannten U-Bahn-Schläger von München, Serkan A. und Spyridon L., wieder die Jungendlichen, vor allem die türkischen jungen Männern in den Fokus rücken, die ohne Boxhandschuh zuschlagen und ihre Messer zücken, dann ist sie sicher, dass diese Männer eben keine Richtung in ihrem Leben haben. Oder auf jeden Fall die falsche.

Vor allem ihren Sport will Hülya Sahin nicht in deren Händen sehen. Nie dürfe man sagen, dass der Boxsport etwas mit dem zu tun hat, was gewalttätige Jugendliche sich und anderen antun. Nichts hat es zu tun mit dem Treten und Einschlagen der beiden Verurteilten auf den längst schon hilflos am Boden liegenden Rentner Bruno N. im Dezember. "Auf der Straße schlägt man sich, im Ring boxt man", sagt Hülya Sahin. "Meine Gegnerin weiß genau, was auf sie zukommt, und ich weiß es auch." Das ist der große Unterschied. Boxen hat deswegen für sie nichts Gewalttätiges. Es ist im Gegenteil klaren Regeln unterworfen - und Disziplin.

Die gilt für einen Boxer oder eine Boxerin aber nicht nur im Ring, sondern immer und überall. Für Hülya heißt das, dass in ihrem Leben nicht viel mehr Platz ist als für Arbeiten, Boxen, Schlafen. Boxen ist zwar ihre Berufung, leben aber kann sie davon nicht. Dafür hat sie bei den Kölner Verkehrsbetrieben einen Job als Metallbauerin. Früher schraubte sie bei Ford am Fiesta herum. Jetzt repariert sie im Kölner Depot Fahrkartenautomaten und Straßenbahnen.

Wochenlang trainiert sie oft allein und muss sich Sparringspartner suchen. Das sind oft Männer, denen sie "mit viel Respekt begegnet" und den dann auch zurückbekommt. Wochenlang verzichtet sie auf ihre geliebten Big Mäcs. Hülya, die sich inzwischen auch Julia nennt, sagt immer, es lohnt sich, wenn man sich quält. Da macht es ihr ein bisschen Angst, dass gewalttätige Jungs, die eigentlich lieber andere quälen, in Erziehungscamps à la Lothar Kannenberg diese umfassende Disziplin des Lebens ausgerechnet mit Boxhandschuhen lernen sollen. Kannenberg, selbst Ex-Boxer mit Drogenkarriere, hat es mit seinem Camp in der Nähe von Kassel spätestens seit den Vorgängen um die U-Bahn-Schläger zu einer gewissen Berühmtheit gebracht. Politiker gaben sich dort vor einem halben Jahr die Türklinke in die Hand, nachdem der hessische Ministerpräsident Roland Koch das Thema Jugendkriminalität durch Serkan und Spyridon für seinen Wahlkampf entdeckt hatte.

Hülya Sahin aber ist skeptisch. In diesen Camps würde denjenigen, die sowieso schon gewalttätig sind, auch noch richtige Kampftechniken beigebracht. Dort würde von morgens bis abends strenge Tagesdisziplin herrschen. Aber hält die auch noch, wenn die Jugendlichen entlassen sind? "Diejenigen, die sowieso aggressiv sind, wird man durch Boxen nicht umbiegen können", sagt Hülya Sahin. "Sie können es noch viel weniger verkraften, wenn sie verlieren, denn sie glauben ja sowieso, dass sie die Größten sind." Die Boxerin bezweifelt, dass jemand, der sein Leben lang nicht gelernt hat, ein geregeltes Leben zu führen, dies in sechs Monaten Boxcamp lernt.

Hülya Sahin passt schlecht in eine Schablone. Doch auch sie selbst will niemanden in ein Raster packen, und deswegen versieht sie ihre Einschätzungen auch mit einem kleinen Einwand: Schließlich komme es immer doch auch auf den Charakter an. Der von Hülya ist nicht nur von Disziplin, sondern auch von Bescheidenheit und großer Fröhlichkeit geprägt. "Sunshine" hat ihr früherer Trainer sie immer genannt. Wenn sie über die Türkei und Deutschland spricht, hört sich das anders an als bei vielen Migranten, die sich in Deutschland benachteiligt fühlen. "Es ist doch immer einfach gesagt, dass der Staat schuld ist", sagt sie. "Ich fühle mich sehr wohl." Sie ist in Siegen geboren, ihre Eltern kamen aus der Türkei. Doch sie will sich nicht zwischen die nationalen Fronten schieben lassen: "Ich fühle mich nicht eingedeutscht und nicht türkisch. Ich denke einfach menschlich."