Gepflegtes Fachwerk, geharkte Vorgärten - und doch lebt hier seit 42 Jahren niemand mehr.

Bonnland. Nachher wird es wieder so sein, dass alle Wilhelm Ortmann auf die Schulter klopfen. Dem kleinen Mann, 78 Jahre alt, in grauem Blouson und grauer Stoffhose. Dass sie ihm danken, und sagen, was wird bloß, wenn der Willi es mal nicht mehr macht? Dass auch er Sätze sagt wie "ah, geht ihr schon?" und "na, bis nächstes Jahr." Dann wird auch er die rot-weiße Schranke am Ortseingang zu seiner Heimat hinter sich lassen, zu seinem silbernen Golf gehen und langsam losfahren. Den Blick noch einmal nach rechts richten, auf das Ortschild, auf dem "Bonnland" steht und darunter "Übungsdorf". Wieder als letzter, wie jedes Jahr.

Wilhelm Ortmann war schon einmal der letzte, der Bonnland verließ. Mit einem vollbepackten Lkw. Er musste gehen, weil die Bundeswehr kam und sein Dorf übernahm. Einen typisch deutschen Ort mit Kirche, Marktplatz, Hauptstraße, Fachwerkhäusern - die perfekte Kulisse, um für den Krieg zu üben. Am 14. Januar 1965 schloss Ortmann ein letztes Mal seine Gastwirtschaft "Zum Greifen" und wurde "abgesiedelt".

Einmal im Jahr, für einen Tag im Herbst, dürfen die ehemaligen Dorfbewohner ihre zurückgelassene Heimat besuchen. Zum Bonnland-Fest.

Es ist früh am Vormittag, das Fest beginnt gerade. Wilhelm Ortmann steht am Ortseingang und begrüßt die "Bonnländer", die ihn "Willi" nennen. Viel klare Vormittagssonne scheint auf diese ländliche Gegend Unterfrankens im Kreis Spessart. Es fliegt ein bisschen Laub herum, die Wiesen sind noch grün. Jedes Jahr organisiert Willi Ortmann zusammen mit der Bundeswehr dieses Treffen. Er geht die Liste der Ehemaligen durch, streicht die, die gestorben sind, und verschickt Einladungen auch an die, die noch nie zurückgekommen sind. Die meisten von ihnen wohnen in Nachbardörfern, einige sind nach Würzburg in die Stadt gezogen. Wilhelm Ortmann lebt in Euerdorf, 18 Kilometer von Bonnland entfernt. Er schüttelt Hände, sagt "schön, dich zu sehen" und "bis gleich, in der Kirche".

Auf dem Parkplatz vor dem Ortseingang stehen Panzer, aus denen Soldaten herauslugen. Wenn die Bonnländer wieder raus sind, soll eine große Übung abgehalten werden. In Chroniken wird Bonnland auch "die Perle des Bachgrundes" genannt.

Schon auf dem Weg nach Bonnland über schmale Landstraßen hörte Willi Ortmann Schüsse und schwere Lkw im Wald. Das ist nichts Besonderes und auch nicht, dass Navigationssysteme den Ort nicht finden, denn Bonnland liegt mitten auf einem Truppenübungsplatz und gehört zur Infanterieschule Hammelburg. Seit Bonnland 1965 endgültig abgesiedelt wurde, gehört es der Bundeswehr. Und Wilhelm Ortmann und die 100 anderen ehemaligen Bonnländer sind hier nur noch geduldeter Besuch.

Ihr Dorf sieht wie neu aus, besser als sie es verlassen haben. Frisch gestrichene Häuser, geharkte Vorgärten, gemähter Rasen. An den übrigen 364 Tagen im Jahr schleichen Soldaten durch die Straßen. Verschanzen sich in den bunten Fachwerkhäusern, schießen aufeinander mit Übungsmunition und werfen Übungshandgranaten. Gelegentlich schlagen sie sich auch, und Panzer rattern über die Hauptstraße. Bonnland wäre ein hübsch zurecht gemachtes Geisterdorf, würde hier nicht regelmäßig für den Krieg, für Geiselnahmen oder den Einsatz in Krisengebieten geprobt.

Aber heute ist Bonnland-Fest und Pause im Häuserkampf. Die Sonntagsruhe dauert einen halben Tag.

Die Heimkehrer auf Zeit bewegen sich im Tross die Hauptstraße entlang zum Gedenkgottesdienst in der evangelischen Kirche St. Michael in der Mitte des Ortes. Sie sind zurückgekommen, weil das Dorf, in dem man aufwächst, nun mal die Heimat sei, das ganze Leben.

Ein älterer Mann deutet auf den Boden: "Haste gesehen, wie die Straßen aussehen? Voller Gummi, das kommt durch die Panzer." Ein anderer sagt: "Den ganzen Parkplatz halten die besetzt, das hätte ja auch nicht sein müssen." Drei Frauen bleiben immer wieder stehen. Die Arme untergehakt, so wie früher. Eine sagt: "Meine Schwester ist hier geboren." Und zeigt auf ein rosafarbenes Fachwerkhaus. Eine andere nickt in Richtung eines hellgrünen Hofes: "Und meine Oma hier." In den Häusern gibt es keine Möbel und auch keine Fenster, nur Fensterläden; wegen der Detonationen würden die Scheiben kaputtgehen.

Die alten Bonnländer wandern durch ihren Ort wie durch ein Museum. Nur dass die Ausstellungstücke nicht aus Afrika oder Ägypten sind, sondern aus ihrem eigenen Leben.

St. Michael ist eine kleine, weiße Kirche. Die Bänke und auch die Empore sind voll besetzt, mit alten und jungen Menschen. Zu Beginn der Messe begrüßt Oberstleutnant Meder, der "neue Bürgermeister von Bonnland", wie ihn Willi Ortmann nennt, die Besucher. "Tut mir Leid", sagt er, "dass Sie den Parkplatz nicht benutzen durften." Dann noch der Hinweis an die Kinder, nicht die Wege zu verlassen und ja keine herumliegenden Munitionsteile anzufassen. Die Gemeinde singt "Lobet den Herrn", die Sonne scheint durch ein gelbes Kirchenfensterkreuz. Die Bonnlandkirche wird nur einmal im Jahr von so vielen Stimmen erfüllt.

Im Sommer '45 kam Willi Ortmann, damals 16 Jahre alt, mit Eltern und seinen Geschwistern aus Oberschlesien, Kreis Lobschütz. Sie erreichten Bonnland auf einem Pferdewagen. Durch den Krieg hatten sie ihren Hof verloren, hier fanden sie einen neuen und eine neue Heimat. Bis die Amerikaner gingen und die Bundeswehr kam.

Der Militärpfarrer des Bundeswehrstandortes Hammelburg spricht im Gottesdienst von "Exodus" und von den "Rivers of Babylon", von biblischen Vertriebenen. Er versichert: "Das Übungsdorf Bonnland hat einen Sinn. Es hilft Menschen, sich in Krisengebieten zu schützen und andere zu schützen." Dann wieder ein Lied. Willi Ortmann hält die kleine grüne Bibel in seinen Händen, die der Pfarrer allen Besuchern schenkt, und singt nicht mit. Er flüstert: "Die Kirche ist wirklich schön, aber ganz früher waren da noch Schnitzereien an der Empore."

Nach der Messe gehen die Bonnländer auf den Friedhof, dort liegen Großeltern, Eltern und Kinder und sogar Prominenz: die Tochter von Friedrich Schiller, Emilie. Darauf sind die Bonnländer stolz. Ein Holzschild am Eingang zu den Gräbern mahnt: "Soldaten, ehrt und schützt diesen Friedhof. Der Kommandant." Die Gräber werden von den Soldaten gepflegt. Einer der letzten Bonnländer, der hier begraben wurde, ist Bernd Rettinger. Er wurde zehn Wochen alt und starb im April 1956. Seine Mutter Anneliese Rettinger steht jetzt allein vor seinem Grab. Obwohl die 71-Jährige eine Sondergenehmigung hat, ihn jede Woche besuchen zu dürfen, kommt sie nur einmal im Jahr. Sie hat braunes kurzes Haar, trägt Jeans und eine weiße Daunenjacke; sie sagt: "Ich geh ungern her" und "mich drückt's zu sehr", dabei legt sie ihre Hand flach auf ihre Brust. Sie hat ihre ganze Jugend in Bonnland verbracht. Ihren Mann, der inzwischen tot ist, hat sie in St. Michael geheiratet. "Wir wärn gern dagebliebn", sagt sie und geht den Willi begrüßen.

Um Willi steht jetzt eine Traube Menschen. Auch zwei jüngere Frauen, um die 50, beide haben kurzes Haar. Es sind seine Töchter. Die eine, Elvira, hat er 35 Jahre lang nicht gesehen. Es ist ein Zufall, sagen beide, dass sie sich hier treffen. Elvira war letztes Jahr schon da, aber zu spät, als der Ort schon zu war. Das ist in diesem Moment Geschichte. Wie auch der Streit, der so lange anhielt. Und Wilhelm Ortmann will auch nicht sagen, worum es dabei ging. Nicht alles aus der Vergangenheit kann er an diesem Vormittag erklären.

Willi Ortmann geht zur Hauptstraße. Am Marktplatz, in Hausnummer 23, hat er seine Gastwirtschaft betrieben. Es ist ein großes Haus mit geöffneten Fensterläden. Soldaten tragen Waffenkisten rein, die große Übung wird vorbereitet. Willi Ortmann steht davor und sagt stolz: "Bis zum Schluss habe ich zwei Lastzüge Bier in der Woche gebraucht, weil drei Bataillone bei mir zum Trinken kamen." Drinnen schreit jemand. Dann klatscht es laut im ersten Stock. Ein Soldat ruft aus dem Fenster: "Hei, hol mal einer einen Lappen."

Das, was in Bonnland geübt wird - "Drei-Häuser-Kampf" oder "Soldaten machen Jackass in Bonnland" -, hat es sogar auf die Internetseite Youtube geschafft. Dort könnten sich die Bonnländer ihr Dorf im Einsatz, Filme übender Soldaten anschauen, untermalt mit Heavy Metal für Schießereien, elegischem Elektrosound für soldatische Gemeinschaftsmomente.

Von diesen Action-Filmen weiß Ortmann nichts, er hat noch nicht mal ein Handy. Er wusste auch nicht, dass seine Tochter hier auftauchen würde. Die Frau, die jetzt ein bisschen unbeholfen neben ihrem Vater steht, lässt sich zeigen, wo die Schlittenabfahrt war und in welchem Haus sie geboren wurde.

Nach drei Stunden ist das Bonnland-Fest vorbei und die rot-weiße Schranke heruntergelassen. Ein Soldat passt auf, dass kein Zivilist mehr reingeht. Ortmann steht allein da, alle anderen sind schon weg. Nächstes Jahr will er wieder nach Bonnland fahren. Denn, wie er sagt, "allein zu sein, hat keinen Wert, das bringt nichts". Und er wird wieder bis zum Schluss bleiben.