Er lebt von Hartz IV, schläft beim Einsatz im Auto und malt jedes Mal ein neues Schild. “Ich zeige, was mich bewegt“, sagt der wohl eigenartigste Demonstrant.

Marl. Warum lässt Gott so etwas zu?" Vorsichtig bugsiert Timo Tasche das Sperrholz-Schild mit der Frage in Leuchtendrot zwischen die Sträuße von Nelken, Rosen und Sonnenblumen, zwischen die Stoffteddys auf dem Fußweg. Sie liegen erst seit ein paar Stunden hier vor dem Mehrfamilienhaus in Recklinghausen. Nach und nach entzündet er mit seinem Feuerzeug die Teelichte auf dem improvisierten Gedenkaltar. Dann tritt Timo Tasche zurück, schlägt die Hand voll Entsetzen vor den Mund und schaut nach oben. Zu den verkohlten Gauben der Dachwohnung. Drei Kinder sind in der Nacht bei einem Feuer ums Leben gekommen.

Ein Fall für Timo Tasche. Der 27-Jährige aus Marl in Westfalen reist zu den Schauplätzen von aufsehenerregenden Kriminalfällen. Er ist vor Ort, wenn Kindermörder vor Gericht stehen. Wenn eine Fahrt mit dem Transrapid für 23 Menschen mit dem Tod endet. Er demonstriert. Gegen die Täter, gegen das Unrecht. Der Mann mit den schwarzen Haaren, dem Stirnband und dem schwarzem Mantel ist eigentlich ein Unbekannter. Obwohl fast jede Zeitung schon ein Foto von ihm gedruckt hat. Bekannt gemacht haben ihn seine Schilder. Worte, kurze Sätze. Aus dem Bauch formuliert, in roter Farbe auf Sperrholz gemalt. Timo Tasche, der Mann mit dem "Warum?". Er macht das seit sechs Jahren. Er war auf bisher auf mehr als 100 "Demonstrationen".

Levke aus Cuxhaven, Stephanie aus Dresden, Jessica aus Hamburg-Jenfeld. Mitja aus Leipzig, Tim aus Elmshorn, Kevin aus Bremen. Die Namen der Kinder, die missbraucht, vernachlässigt, ermordet wurden, ihre Heimatorte. Als eine Art Kuriosum taucht der Demonstrant in Reportagen von diesen Brennpunkten auf. Sogar ein "Timo Tasche aus Marl in Westfalen" sei Hunderte Kilometer hierhin gereist, schreiben Journalisten, um zu illustrieren, wie sehr Menschen diese Tat bewegt.

Timo Tasches eigene Welt ist eine Zwei-Zimmer-Wohnung am Ende einer kleinen Sackgasse in Marl. Ein Bett-Sofa, eine Kommode, Gelsenkirchener Barock, ein älterer Computer auf dem beige-grauen Teppich. Auf der Kommode steht ein Spiegel, auf dem Glas eine Mahnung: "Du hast mehr verdient". Und dann gibt es noch ein schmales Bad. Eine Küche, in der neben einer Kochzeile ein paar Utensilien zum Schildermalen auf dem Linoleum liegen.

Tasche bittet auf den Rasen hinter dem schmucklosen Mehrfamilienhaus. Er hat einen Plastiktisch aufgestellt, zwei Stühle, eine kleine Vase mit ein paar Blumen. In einem Bottich mit eiskaltem Wasser kühlen Flaschen mit Cola, Bier und Leitungswasser. Was Tasche dann ganz offen darlegt, ist die Geschichte eines Menschen, der irgendwann kurz vor Ende seiner Berufsschulzeit aus dem Tritt gekommen ist. Und seitdem verzweifelt versucht, diesen wieder zu finden.

Er ist ein Kind des Ruhrpotts. Geboren in Gelsenkirchen, hat er seinen Vater kaum erlebt. Der starb, als Timo drei war. Er habe derzeit keine Freundin, "nix festes". Seine Mutter fährt Taxi. Der Mann mit dem Realschulabschluss hat sich beworben, bei der Polizei, bei einem Bäcker, in der Kfz-Werkstatt. Er hat die üblichen Jobs gemacht, in der Kneipe, ist Taxi gefahren, war Komparse beim Film. Und auch die unüblicheren Jobs. Er hat Fahrchips in der Kirmes-Geisterbahn eingesammelt. Er hat für ein Beerdigungsinstitut Leichen abgeholt. Er wollte Pornostar werden, aber nicht ohne Kondom. Insgesamt 40 Anläufe, resümiert er. Und alle gescheitert. Immer gab es etwas, das nicht passte. Kollegen, mit denen Tasche nicht zurechtkam. Eine Formaldehyd-Allergie, die seine Karriere beim Bestatter beendete.

Timo Tasche erzählt das mitleidlos, faktengetreu. So, als müsse er Rechenschaft ablegen. Er lebt von Hartz IV, von 345 Euro im Monat plus Miete. Seit sieben Jahren in der Wohnung am Nordrand des Ruhrgebiets.

Anfang 2001 begann sein zweites Leben. Als er das Foto sah, das ihn, wie er sagt, nicht mehr losließ. Ein Kinderfahrrad. Verlassen, von frischem Schnee eingehüllt. Das Fahrrad der zwölfjährigen Ulrike aus Eberswalde. Ein Foto wie eine Ikone für den Mädchen-Mord. Timo Tasche sagt, er musste da hin, vor Ort. Weil ihn die Sache nicht schlafen ließ.

Mitten in der Nacht auf den 25. Februar 2001 setzte sich der 21-Jährige in seinen roten Audi 80, fuhr 588 Kilometer bis ins Brandenburgische. Eine Woche blieb Tasche in Eberswalde. Er lebte in seinem Audi, in dem das Eis morgens so dick auf den Scheiben lag, dass er sich den Blick nach draußen freikratzen musste. Für Blumen am Grab fehlte ihm Geld. Da kam er auf eine Idee. Ein Schild. Das erste holte er sich vom Sperrmüll, die Sperrholz-Rückseite eines Schranks. Darauf schrieb er: "Ulrike, Du bleibst in unseren Herzen". "Ich wollte zeigen, was mich bewegt", sagt der 27-Jährige.

Als Timo Tasche zurückkehrte, war er seinen Berufsschulplatz los. Weil er eine Woche unentschuldigt gefehlt hatte. "Aber das war sowieso nichts für mich", sagt er. Sein Weg war jetzt frei. Frei für einen ungewöhnlichen Job, den er selbst nüchtern sieht. "Jeder hat seine Aufgabe. Die Medien berichten, ich demonstriere." Er geht auf in diesem, seinem zweiten Leben, das ihm "die Zeit vertreibt".

Er hat seine Aktionen förmlich klassifiziert. Da gibt es "Demonstrationen". Bei Peter Hartz etwa, dem ehemaligen VW-Personalchef, der sich wegen Lustreisen von VW-Managern in Braunschweig vor Gericht verantworten musste, hat Tasche auf sein Schild geschrieben: "Wo sind die Nutten?" Meistens aber geht Tasche auf "Mahnwachen". Wie bei der Beerdigung des ermordeten Modezars Rudolph Moshammer in München. Auf Tasches Schild stand: "Mosi, wir sagen leise Servus". Seine Gedanken auf Sperrholz liegen zu Hause im Keller. Dutzende Plakate, nebeneinander, übereinander. "Kleiner Tim - was wurde Dir nur angetan?!" "Benjamin, in unseren Herzen lebst Du weiter", oder: "Wir trauern um neun kleine Babys". Dokumente einer Berufung, der Suche nach einem Sinn im Leben. "Warum", sagt Tasche, ",Warum' geht immer." Weil es darauf keine Antwort gebe. So wie wohl auch in seinem eigenen Fall auf die Frage, warum er das macht.

Timo Tasche lebt die Geschichten, die der Boulevard ihm vorgibt. Er ist kein Voyeur. Er leidet mit den wirklich Betroffenen mit. Statt in die Kneipe zu gehen, leistet Tasche sich eine Flatrate. Er legt sich dann auf seinen Teppich im Wohnzimmer, vor den Computer und durchforstet das Internet. Oft spätabends.

Wenn ihn ein Fall berührt, muss er gleich los. Kaffee kochen, den Ort, die Straße finden. Hinfahren. Sein Schild aufstellen. Ein Hotel kann er sich nicht leisten, einen Schlafsack hat er nicht, die Decke vergisst er meist vor Aufregung. Er trägt stattdessen zwei Hosen und drei Pullover übereinander. Auf der Fahrt, im Dunkeln, hört er laut Silbermond, Scorpions oder Xavier Naidoo. Auch, um sich Mut zu machen.

Mit rotem Dekorlack, wetterbeständig und kratzfest, bemalt er seine Holzschilder, preisgünstige Reste aus dem Baumarkt. Pappe würde im Regen aufweichen. Timo Tasche benutzt kein Schild zweimal, er malt immer ein Neues. "Manchmal ist es vor Ort langweilig. Wenn niemand da ist. Ich bin dann froh, wenn die Demo beendet ist und ich nach Hause kann", sagt der 27-Jährige. Und, dass er sich seinen Job nicht ausgesucht habe. Timo Tasche sagt, er habe Angst. Dass er, wenn er im Internet surft, wieder etwas findet. Von etwas liest, das ihn schockiert: "Es passiert immer öfter." Außenstehende verstünden "meist nicht richtig, was ich mache", glaubt Tasche. Seine Freunde dagegen fänden das gut. Seine Mutter frage ihn, warum er dafür sein ganzes Geld ausgebe. Er sagt: "Es ist eine Sache, die immer weitergeht. Ich habe mir öfter gesagt: Lass es sein. Aber dann kam ein neuer Fall - und ich musste da einfach hin. Es musste sein." Und, ja, er hoffe auch, dass er "irgendetwas bewegt".

Dieser Tage fühlt er sich wie ein Fisch ohne Wasser. Sein Kadett (Baujahr 1992) ist in der Werkstatt. Radlager, Bremsen - 900 Euro Reparaturkosten. Das macht Tasche Sorgen. Ohne sein Auto mit der Aufschrift "Hier kommen die Schilder" auf der Hecktür ist der Mann mit dem "Warum?" , wie er es formuliert, "nicht einsatzfähig". So schafft er es nur zu Mahnwachen in der Nähe, etwa zu den toten Kindern in Recklinghausen: "Ich hoffe einfach, dass jetzt nichts passiert."