Reformstau, Gleichberechtigung, Familie, Rente, Globalisierung, RAF . . . Ein Staatsmann spricht.

ABENDBLATT: Seit 13 Jahren sind Sie nicht mehr Staatsoberhaupt der Bundesrepublik: Was hat sich seither am meisten verändert in Deutschland?

RICHARD VON WEIZSÄCKER: Endlich ist, wenn auch mit sehr großen Verspätungen, die Einsicht zum Durchbruch gekommen, dass wir auf das Dringendste darauf angewiesen sind, Reformen durchzusetzen, welche die Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft erfordern. Die soziale Marktwirtschaft stammt aus der Gründungszeit der Bundesrepublik, und Ludwig Erhard, der als ihr Stammvater gilt, hat uns stets an eines erinnert: Nur was der Markt erwirtschaftet, kann auch sozial verteilt werden. So ging es mit der sozialen Marktwirtschaft steil bergan - das sogenannte "Wirtschaftswunder". Die Folge war, dass bereits nach den ersten zehn Jahren der jungen Republik durch die Parteien an sozialen Leistungen nicht nur viel zugesagt und verteilt, sondern auch zu Besitzständen verdichtet und rechtlich abgesichert wurde.

ABENDBLATT: Was ist seither schief gelaufen in der Bundesrepublik?

WEIZSÄCKER: Inzwischen haben wir mindestens zwei grundlegende Veränderungen zu bewältigen. Das eine ist international: die offenen Grenzen in einer auf 27 Mitglieder angewachsenen europäischen Union einerseits und die ja auch in unserem Interesse liegende, aber eben ganz neue Anforderungen stellende Globalisierung. Die andere große Entwicklung ist der demografische Wandel. Und beides zusammen nötigt zwingend zu Reformen, die wir aber eigentlich erst vor ungefähr fünf Jahren angefangen haben, anstatt vor 15.

ABENDBLATT: Ist das ein Lob für Altkanzler Schröder oder die Reformpolitik der Großen Koalition?

WEIZSÄCKER: Ich habe gar nicht die Aufgabe, Regierungen zu zensieren. Eines ist aber in der Tat meine Überzeugung: Die Reformprozesse mussten, um eine gewisse Chance ihrer Durchsetzbarkeit zu haben, von links angestoßen werden. Das hat Schröder in seiner eigenen Partei, mit ihrer großen Nähe zu den Gewerkschaften, gegen starken dortigen Widerstand begonnen - und das bleibt sein Verdienst. Wir müssen nur mit den Reformen jetzt auch durchkommen. Die Gesundheitsreform ist nun fast durch, andere, wie die Pflegereform noch gar nicht abzusehen. Zumindest die Rente mit 67 ist in der Großen Koalition praktisch nicht umstritten. Und sie ist ja auch nichts anderes als die Konsequenz aus einer äußerst simplen Rechnung.

ABENDBLATT: Eine richtige Idee, also, die Rente mit 67?

WEIZSÄCKER: Eine vollkommen unvermeidliche! Es ist ganz klar, dass starke Ausnahmen je nach Berufstätigkeit notwendig sind. Auch bedarf es selbstverständlich unserer Aufklärung darüber, was das heißt: Auf der einen Seite haben wir Arbeitslosigkeit, auf der anderen Seite sollen Arbeitsplätze länger besetzt bleiben. Aber: Was sollen wir denn machen, wenn die Rentenversicherung in den nächsten 20 Jahren doppelt so viele Rentenjahre finanziell ausstatten muss wie vor 30 Jahren? Das haben wir nun einmal nicht vorhergesehen. Und daraus Konsequenzen zu ziehen ist völlig unvermeidlich. Alles andere wäre unverantwortlich, vor allem gegenüber den Jungen.

ABENDBLATT: Haben wir es wirklich nicht vorhergesehen? Oder wollten frühere Politikergenerationen die unpopulären Konsequenzen aus den demografischen Daten in den 70er- und 80er-Jahren einfach nicht ziehen?

WEIZSÄCKER: Nun ja: Ludwig Erhard jedenfalls können wir nicht mehr fragen. Er würde aber wohl sicher für sich in Anspruch nehmen, dass er bis in die 60er-Jahre hinein dafür gekämpft hat, dass wir uns in Bezug auf die notwendigen und legitimen Ziele sozialer Gerechtigkeit nicht jenseits unserer Ertragskraft zubewegen. Aber was den demografischen Wandel anbetrifft, so muss man doch nur zwei Punkte nennen: Das eine ist die Erfindung der Pille. Das andere: Es wurde endlich ernst gemacht mit der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Wir sind in Bezug auf die Kinderzahl in West und Ost im Vergleich zu anderen Ländern stark in Rückstand geraten. Die Franzosen machen das besser. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf funktioniert in Frankreich offensichtlich aufgrund eines früher einsetzenden öffentlichen Bewusstseins besser als bei uns. Dass junge Mädchen, die auf dieselbe Schule gehen, dieselbe Ausbildung hinter sich bringen, doch den vollen Anspruch haben, ebenso berufliche Aussichten vor sich zu haben wie die Jungs: Wer wollte das denn bestreiten? Und dass heute junge Frauen trotzdem den Wunsch nach Kindern nicht verlieren, auch wenn sie damit vielleicht weit später beginnen, als es noch in einer Zeit war, als meine Frau und ich unsere Familie gründeten: Das imponiert mir sehr! Wenn jemand zum Beispiel mit Anfang 40 beschließt Mutter zu werden: Da kann man doch nur den Hut ziehen!

ABENDBLATT: Familienministerin von der Leyen musste ihre Familienförderung gerade innerhalb der Union gegen Wickel-Volontariat-Polemiken durchsetzen.

WEIZSÄCKER: Es ist vollkommen eindeutig, dass wir in Bezug auf Familienförderung und eine gründliche Bewusstseinsveränderung in Bezug auf die demografische Entwicklung weiterkommen müssen. Damit gibt es natürlich Streitigkeiten, wie zum Beispiel bei der Frage des Kindergeldes: Darf das nur gezahlt werden, wenn die Eltern verheiratet sind? Denken Sie mal an die französische sozialistische Präsidentschaftskandidatin Segolène Royal: Vier Kinder hat sie! Jeder weiß, mit wem sie zusammenlebt, auch wenn sie nicht verheiratet sind. Ich habe kürzlich eine amerikanische Statistik gelesen, nach der dort über 50 Prozent der jungen Frauen, die auch Kinder haben, nicht verheiratet sind. Ich werbe mit Überzeugung und Nachdruck für die Heirat. Aber deswegen darf ich doch nicht den Kindern und ihren unverheirateten Eltern das Leben mit den Kindern und die Freude an ihnen erschweren, indem ich sage: Nein, erst müsst ihr dem Beispiel eurer Eltern und Großeltern folgen und heiraten, bevor die Gesellschaft euch unterstützt.

ABENDBLATT: In einem anderen historischen Prozess in Deutschland steht das Amt des Bundespräsidenten gerade im Mittelpunkt des Interesses, nämlich bei der Frage nach der Begnadigung von RAF-Terroristen. Wie haben Sie diese Entscheidung erlebt?

WEIZSÄCKER: Ich habe das vollste Vertrauen, dass unser Bundespräsident in seiner Verantwortung als Gnadenherr mit dieser Frage vorbildlich fertig wird. Und daher halte ich es nicht für angemessen, dies in irgendeiner Weise zu kommentieren, auch nicht in Bezug auf meine eigene Erinnerung an vergleichbare Fälle meiner Amtszeit.

ABENDBLATT: Wenn Sie nach vorn blicken: Welche Herausforderung, die wir als Gesellschaft des 21. Jahrhunderts vor uns haben, erfüllt Sie mit der größten Sorge?

WEIZSÄCKER: Die wichtigste Aufgabe ist, dass wir verantwortlich umgehen lernen mit der Natur. Davon leben alle Menschen - und alle leiden darunter, wenn wir hier etwas versäumen. Denken Sie an die Not von Millionen Menschen, die entstehen würde, wenn wir zuließen, dass etwa durch den Klimawandel und das Abtauen der Pole ganze Landstriche überschwemmt werden. Der verantwortliche Umgang mit der Natur ist die Voraussetzung für die Lebenschancen im Norden und im Süden. Das ist wirklich meine Sorge Nummer eins. Zweitens müssen wir auch lernen, dass die allermeisten Probleme, die die Menschen wirklich belasten, sich eben nicht mit militärischen Mitteln allein lösen lassen. Um ein Beispiel zu nennen: Selbst Dinge wie das Existenzrecht Israels, zu dem wir uns als Deutsche voll und ganz bekennen, können wir nicht allein davon erwarten, dass Israel seinen Nachbarn militärisch überlegen ist. Sondern dass politische Verabredungen mit den Nachbarn zustande kommen. Das gilt auch für die globale Rüstungsentwicklung insgesamt. Es hat einmal einen Atomsperrvertrag gegeben, der nicht nur zum Ziel hatte, die Verbreitung von Kernwaffen zu verhindern, sondern auch die Kernwaffenbesitzer zur Abrüstung verpflichtete. Dabei sind wir derzeit schwer in Verzug gekommen. Das Dritte wäre der Welthandel: Die Welthandelsorganisation wurde geschaffen, um die südliche Erdhälfte mit besseren Lebensbedingungen auszustatten. Das ist die wichtigste Aufgabe, die wir bei der Globalisierung wahrzunehmen haben. Und das können wir auch deswegen tun, weil ein Land wie unseres in Wahrheit von der Globalisierung mehr profitiert als darunter leidet.

ABENDBLATT: Und was gibt Ihnen am meisten Anlass, hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken?

WEIZSÄCKER: (lacht) Dass wir auch aus Fehlern lernen! So ist doch auch die europäische Entwicklung nur zu erklären. Und das ist eine in der Weltgeschichte vollkommen neue. Niemand hat uns dazu gezwungen. Wir waren, damals in den 50er-Jahren, in vollem Frieden und haben uns trotzdem bereitgefunden, nationale Kompetenzen abzugeben, um sie gemeinsam wahrnehmen zu lassen. Das hat einen Erfolg in Europa herbeigeführt. Und die Folge davon war, dass Schritt für Schritt der Kalte Krieg zu Ende ging. Nun können wir als Deutsche nur glücklich darüber sein, dass wir von Nachbarn umgeben sind, von denen uns niemand bedroht und umgekehrt keiner fürchtet. Das hat es in der deutschen Geschichte noch niemals gegeben.