Der Amoklauf des Schülers Sebastian B. im westfälischen Emsdetten hat alle geschockt. Damit es zu so einer Gewalttat nicht kommt, setzen Sozialarbeiter wie an der Ganztagsschule St. Pauli auf soziales Lernen.

Hamburg. Hamburg - Vorbei an Sexclubs und Bars geht der Schulweg, den 330 Kinder jeden Morgen antreten. Ihr Ziel ist die Ganztagsschule St. Pauli in der Friedrichstraße 55. 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler sind in Deutschland geboren, haben aber nicht Deutsch als Muttersprache. Mit einer hohen Drogenkriminalität und häufigen Polizei-Einsätzen ist das Viertel nicht gerade eine kinderfreundliche Umgebung. Gewalt findet hier direkt vor der Schultür statt.

Vom Klassenzimmer der 3a aus sieht man gerade die Sonne über dem Hafen aufgehen. Es herrscht eine fröhliche Atmosphäre, die Kinder tragen Hausschuhe, fassen sich an den Händen, lachen. Gerade hat die Klassenlehrerin eine Gesprächsrunde begonnen. Thema ist das gestrige Herbstfest. Jeder soll erzählen, wie er das Fest fand und was er erlebt hat. Die kleine Adike erzählt, dass sie Stockbrot gegessen hat, Monique und Melisa waren in der Disco, obwohl da eigentlich nur die älteren Schüler hin durften. Aber es gab auch Ärger und Tränen. Beim Lesewettbewerb fühlten sich einige Schüler benachteiligt. "Lasst uns das gleich mal im Kreis besprechen", sagt Axel Wiest (55), der an der Schule seit zwölf Jahren als Sozialarbeiter tätig ist.

Zuhören, Probleme besprechen und Lösungen anbieten

Neben Lesen, Rechnen und Schreiben steht bei ihm "Soziales Lernen" auf dem Stundenplan. "Wir wollen, dass unsere Schüler Erfolgserlebnisse haben, und das nicht nur über schulische Leistung, sondern auch im sozialen Bereich. Der Amokläufer in Emsdetten hat immer wieder gesagt, dass ihm keiner zugehört hat. Wir machen hier in St. Pauli das totale Kontrastprogramm. Zuhören, über Probleme sprechen, gemeinsam Lösungen finden - was für uns Erwachsene Kleinigkeiten sind, sind für die Schüler große Dinge." Zumal viele von ihnen aus Elternhäusern kommen, in denen Gewalt und Drogenprobleme zum Alltag gehören, Gespräche über Ängste und Sorgen aber nicht. Deshalb kommen in den Gesprächsrunden der Ganztagsschule nicht nur schulische Themen zur Sprache, sondern auch alltägliche Probleme.

Wenn sich die Katze an der Pfote verletzt hat, wird das von den anderen Kindern und den Lehrern genauso ernst und aufmerksam aufgenommen wie der Unfall von dem kleinen Hasan. Er hat sich gestern beim Sportunterricht den Kopf an der Türklinke gestoßen. "Ich habe 20 Minuten lang geweint. Und Dogus, der mich gesehen hat, ist einfach weggelaufen." Axel Wiest guckt den Jungen an: "Warum hast du Hasan denn nicht geholfen?" Schulterzucken. Dann antwortet Dogus leise: "Ich hatte Angst, dass ich Schuld bekomme." Es stellt sich heraus, dass er die Tür geöffnet hat, an der Hasan sich verletzt hat. Der Sozialarbeiter fragt in die Runde: "Was würdet ihr sagen: War das schlau, dass Dogus nach Hause gerannt ist?" Alena ist der Meinung, dass Weglaufen alles nur schlimmer macht. Und Adike wäre auch bei Hasan geblieben: "Ich hab ihn gestern getröstet." Die blonde Monique sei dagegen wie Dogus weggelaufen. "Hasan hat ja auch schon andere Schüler ganz schön gehauen." Einige Kinder lachen, plötzlich schlägt Dogus die Hände vor sein Gesicht und fängt an zu weinen. Die Lehrerin reagiert sofort: "Hört auf zu lachen. Es ist nicht fair, sich über jemanden, der traurig ist, auch noch lustig zu machen." Zwei Mädchen setzen sich zu Dogus und trösten ihn, Hasans Nachbar legt ihm die Hand auf die Schulter. Axel Wiest klärt die Situation: "Weglaufen ist keine Lösung. Wenn so was das nächste Mal passiert, kümmert ihr euch umeinander und informiert einen Lehrer, ja?" Die Schüler nicken, gehen auf ihre Plätze, auch Dogus lächelt wieder.

"Natürlich haben wir es mit Konflikten und Gewalt zu tun. Denn der Stadtteil ist ja auch voll davon. Aber hier hat noch nie ein Schüler einen Lehrer oder Mitschüler ernsthaft bedroht. Etwas ganz Schlimmes ist zum Glück noch nie passiert." Wichtig sei, dass Spannungen sich sofort in Gesprächen auflösten, um nicht in Gewalttaten wie jüngst in Emsdetten zu münden. Damit Schüler sich nicht vernachlässigt oder ausgegrenzt fühlen, müssen die beiden Sozialarbeiter auf St. Pauli immer am Ball bleiben, sie motivieren und integrieren. Das kostet viel Zeit und Energie, hat aber einen entscheidenen Vorteil: "Ich kenne die meisten Schüler von der ersten bis zur zehnten Klasse. Sie lernen also kontinuierlich, wie man anderen mit Respekt und ohne Gewalt begegnet - so, wie sie auch das Einmaleins oder Rechtschreibung lernen."

Mithilfe des "Stopp-Programms" lernen die Schüler, wann man jemand anderen in Ruhe lässt. Respektiert jemand das "Stopp" nicht, wird er zunächt verwarnt. Im zweiten Schritt bekommt er eine Strafarbeit aufgebrummt, zum Beispiel Tisch decken oder Geschirr abräumen. Und die Schüler müssen sich bei dem Betroffenen entschuldigen. Wie sie die Körpersprache eines Mitschülers deuten und sich in Streitsituationen angemessen verhalten, ohne die Fäuste zu gebrauchen, lernen die Kleinen ganz früh durch das "Faustlos-Programm".

Respekt unter Schülern und Lehrern ist wichtig

"Beziehung ist das Allerwichtigste", sagt Axel Wiest. Das gilt auch für die Lehrer: "Wenn man Beziehungen zu den Schülern hat, erfährt man viel über sie, und sie bauen Vertrauen auf. Damit sind wir hier auf einem recht guten Weg." Als der Vorfall an der Berliner Rütli-Schule war, wurden die Pauli-Schüler nach ihrer Situation befragt. Sie bewerteten damals gegenseitigen Respekt und ein Verhältnis auf gleicher Augenhöhe zwischen Schülern und Lehrern als besonders positiv. Problematisch seien lediglich Quereinsteiger, die schon mehrere Schulen hinter sich haben. "Wenn wir diese Schüler nicht integrieren können, kümmern wir uns darum, dass sie von anderen Organisationen wie Rebus unterstützt werden. Wichtig ist, dass sie nicht einfach ins Nichts entlassen werden."

Schule als ein Ort des Vertrauens, an dem man seine Gefühle und Sorgen äußern kann - so sieht Axel Wiest seine Schule. Sebastian B. aus Emsdetten fühlte sich von der Schule blamiert und betrogen. Er wollte sich mit seiner Tat rächen. Ihm hat offenbar niemand zugehört, sonst wäre die Tat verhindert worden.

Am Ende der ersten Stunde in der Ganztagsschule St. Pauli schreibt die Lehrerin die Punkte auf, die die Schüler beim nächsten Lesewettbewerb verbessern würden. Sie wollen beim Lesen nicht unterbrochen werden. Jeder Teilnehmer, soll neben der Urkunde einen Preis bekommen. Und wenn jemand weint, soll er getröstet werden. Kleine Sachen, die viel ausmachen.