Berlin. In der Debatte um Armut in Deutschland und den Begriff "Unterschicht" fließen immer neue Aspekte ein. Nach einer Studie, die im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung erstellt worden ist, gibt es in Deutschland eine sehr umfassende versteckte Armut. Darunter sind knapp zwei Millionen Erwerbstätige, die ihr geringes Einkommen nicht aufstocken lassen, obwohl es möglich wäre. Nach der gewerkschaftsnahen Studie erhalten 7,4 Millionen Menschen mit Anspruch auf Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld tatsächlich Hartz-IV-Leistungen. Aber zehn Millionen Menschen hätten Anspruch.

Betroffen sind nach der Studie vor allem gering Qualifizierte, Teilzeitbeschäftigte, die keine volle Stelle finden, sowie Familien mit drei oder mehr Kindern. Hinzu kämen 1,5 Millionen Haushalte, die auch ein Vollzeiteinkommen nicht vor Bedürftigkeit schütze.

Besondere Verärgerung quer durch alle politischen Lager löste eine Aussage der Ehefrau von Linkspartei-Fraktionschef Oskar Lafontaine aus. Durch umfassende staatliche Familienbetreuung lasse sich die "Reproduktion des asozialen Milieus" begrenzen sagte Christa Müller, die im saarländischen Landesvorstand der Linkspartei ist.

Die politische Debatte über Armut entwickelt sich derweil immer mehr zu einem Streit über die Arbeitsmarktpolitik. Während Verbände und Kommunen gestern von der Bundesregierung konsequenteres Handeln forderten, stritten SPD und Union darüber, wer die Verantwortung für zunehmende Verarmung trage und wie mit Langzeitarbeitslosen umzugehen sei. DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach rief die Politik zum Handeln auf: "Es reicht nicht, nur über Armut zu reden. Man muss auch etwas dagegen tun." Ähnlich äußerte sich der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber. Der Begriff Unterschicht lenke von der eigentlichen Aufgabe ab, Menschen in prekären Lebenssituationen neue Arbeits- und Lebensmöglichkeiten zu eröffnen. Die Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Barbara Stolterfoht, forderte einen Ausbau der aktiven Arbeitsmarktpolitik sowie einen zweiten und dritten Arbeitsmarkt.

Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg, warf Bundespolitikern widersprüchliches Verhalten vor: Einerseits forderten sie von den Kommunen mehr Hilfen der Jugendämter und mehr Engagement im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, gleichzeitig wolle die Regierung aber ihren Zuschuss zu den Unterkunftskosten von Hartz-IV-Empfängern auf 2,2 Milliarden Euro reduzieren.

CSU-Generalsekretär Markus Söder warf der SPD vor, für einen Großteil der "neuen Armut" verantwortlich zu sein. Sieben Jahre Rot-Grün hätten zu Massenarbeitslosigkeit geführt. Er forderte indirekt eine Senkung der Bezüge für Langzeitarbeitslose: Hartz IV sei bereits ein Mindestlohn, "weil er so hoch ist, fehlt manchen die Motivation zur Arbeit".

Der SPD-Arbeitsmarktexperte Klaus Brandner sagte, Söders Aussage impliziere, dass es ausreichend Arbeitsplätze gebe, die nur wegen fehlenden Drucks nicht angenommen würden. Dies sei aber nicht so. Brandner schlug auf Dauer angelegte öffentliche Beschäftigung vor. Die Kosten solle der Bund tragen, wobei nach Möglichkeit Kommunen und Länder zu beteiligen seien.

Grünen-Chefin Claudia Roth sprach von "absurden Zügen" des Streits in der Großen Koalition. Bundeskanzlerin Angela Merkel solle ein Machtwort sprechen.