Hamburg. Auch Gregor Gysi - wer hätte das gedacht? Der Spross des DDR-Sozialismus hat über all die Jahre nach der Einheit immer die Rolle für sich beansprucht, das mahnende Gewissen zu sein. Er spielte dabei die große Klaviatur: Ob als Vorsitzender der PDS oder als Fraktionschef im Deutschen Bundestag, als elegant parlierender Gast nicht mehr zu zählender Talkshows und jetzt als Berliner Wirtschaftssenator genoss und genießt er geradezu die Freiheit, die er einst nicht haben durfte, auf die Deformationen des herrschenden Systems zu verweisen. Nun, nach zwölf Einheitsjahren, kann auch er von sich sagen, endgültig im Westen gelandet zu sein, dank vieler Miles & More-Flüge. Gregor Gysi hat vom teuren Gut der Freiheit genascht, und er hat sich dabei verschluckt. Das ist das Gute an der Freiheit, dass sie alle, die sich jede Freiheit nehmen, bloßstellt oder sie zwingt, reumütig zu gestehen. Dem Nachfahren des SED-Regimes, zu dessen kleiner Welt der Privilegierten Gregor Gysi gehört hat, wird es jetzt nicht mehr so leicht fallen, wortreich über Schattenseiten der kapitalistischen Welt mit ihren unendlichen Verlockungen herzuziehen. Auch wenn er kein kapitaler Sünder ist, ein kleiner ist er jedenfalls, eben ein Schattenmann. Wen die Gegenwart erst einmal in der Mangel hat, darf sich nicht wundern, an die Vergangenheit erinnert zu werden. Da wäre beispielsweise das Jahr 1976, tiefste und finsterste DDR-Zeit. Gregor Gysi, Sohn einer bekannten ostdeutschen Familie, der Vater war einst Kulturminister, schrieb in jenem Jahr also an der Ost-Berliner Humboldt-Universität seine juristische Doktorarbeit. Thema: sozialistische Rechtsverwirklichung. Zur gleichen Zeit entwarf die SED das "Sozialistische Menschenbild". In dem pathetischen Papier hieß es über die Entwicklung der sozialistischen Moral: "Bekämpfung wesensfremder Verhaltensweisen wie Egoismus, Raffgier und dem Streben, sich auf Kosten der Gesellschaft zu bereichern . . ." Insofern entbehrt vor allem der Fall Gregor Gysi nicht einer gewissen Pikanterie, weil auch seine alten Lehrmeister als Geister früherer Jahre des Schülers Nächte stören werden.