Wahlen in NRW: Nach 39 Jahren droht der SPD an Rhein und Ruhr der Machtverlust. Kein Wunder, wenn sogar in den Arbeitersiedlungen von Gelsenkirchen viele zum ersten Mal in ihrem Leben die CDU wählen. Eine Milieu-Studie.

Gelsenkirchen. Kosti kennt jeden hier auf Schalke. Und umgekehrt. Ein Pläuschchen hier, ein Prösterchen da: Keine Zeitung der Welt ist aktueller als die Infobörse in den Kneipen und Döner-Buden im Gelsenkirchener Arbeiterstadtteil Schalke - einen Steinwurf weg von der traditionsreichen Glückauf-Kampfbahn. Und die Nachrichtenlage ist miserabel. Binnen vier Jahrzehnten ist die Stadt von 400 000 auf 240 000 Einwohner geschrumpft. 25,1 Prozent sind arbeitslos - das ist die höchste Quote in Westdeutschland -, in Schalke selbst sind es sogar 34 Prozent.

Von wegen Glück auf!

"Arbeit ist hier so schwer zu finden wie die Stecknadel im Heuhaufen", sagt Günther Kostrzewa (69) alias Kosti. Solch düstere Perspektiven vermag allenfalls der Fußball aufzuhellen. Königsblaue Herrlichkeit gegen graubraune Tristesse der Bergmannssiedlungen - vor allem dann, wenn der FC Schalke 04 siegreich ist. "Tausend Feuer in der Nacht haben uns das Glück gebracht", singen sie in der stets ausverkauften "Arena AufSchalke", die zwar nicht mehr in Schalke steht, sondern im Stadtteil Erle, aber das ist egal.

Der Platz vor der ausrangierten Glückauf-Kampfbahn, wo die Blau-Weißen bis 1973 kickten und sieben deutsche Meistertitel holten, trägt den Namen des Ballkünstlers Ernst Kuzorra, des legendären Ruhrpott-Sohns. Ein kleiner Parkplatz nur, aber immerhin. Am Rande führt Ronald Marcinkowski die Schankwirtschaft "Bosch", seit Jahrzehnten Stammkneipe der Schalker Gemeinde. Heringstopf mit Pellkartoffeln kostet sieben, ein Halber Veltins 2,60 Euro. Ein Messingschild am Stammtisch hinten rechts erinnert an den Deutschen Meister Ernst Kuzorra (1905 bis 1990).

Kosti rückt drei Plätze weiter. Soviel Respekt muß sein. "Irgendwie sitzt der Ernst ja immer noch da", flüstert er. An der Theke bringt Fritz seine Schirmmütze in Form und nickt zustimmend. Fritz arbeitet im Lottoladen eine Ecke weiter, der Kuzorra nach der Laufbahn den Lebensunterhalt sicherte. Läuft immer noch gut das Geschäft. Die Kundschaft bleibt treu. So treu, wie die Fans zu ihrem Verein stehen. Auch wenn es diesmal wieder nicht mit dem Meistertitel klappte. Klar ist aber, daß die Schalker Kicker am 28. Mai den Pott holen - mit Schmackes. Im Pokal-Finale gegen die verachteten Rothosen vom FC Bayern München.

Auch am Sonntag zuvor, am 22. Mai, werden die Roten verlieren. Glaubt Kosti. Bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Dabei nimmt Günther Kostrzewa den Steilpaß der Demoskopen auf: "Die Schwatten siegen!" Kein Zweifel? Kein Zweifel! Das meint nicht nur Kosti, das meinen auch die Kumpels aus der Nachbarschaft.

"Jetzt ist Schluß mit lustig", wettert der frühere Bergmann. Zeche Consolidation, Schacht 16, später Zeche Bismarck. Beide haben den Betrieb längst eingestellt. "Immer habe ich SPD gewählt, mein ganzes Leben lang. Wie die gesamte Familie", verrät Kosti. "Diesmal gebe ich der CDU meine Stimme." Premiere mit bald 70 Jahren. Die Reaktionen der anderen Gäste zeigen, daß Günther Kostrzewa nicht allein steht mit seiner Meinung.

Im Pütt damals habe er anständig verdient, ihm selbst gehe es nicht schlecht: "Wenn ich watt Hunger hab', kauf' ich mich dat." Aber andere aus seiner Nachbarschaft müßten jeden Cent umdrehen. So wie die Witwe mit "40 Jahren Maloche bei Küppersbusch auf dem Buckel", die mit 600 Euro Rente auskommen müsse. "Alles wird teurer - und dann zwei Nullrunden. Das ist eine Schweinerei", wettert Kosti.

Auch die Kollegen im Imbiß an der Kurt-Schumacher-Straße tragen das Herz auf der Zunge. "Bei mir hat die SPD verspielt", sagt Hertha (42) bestimmt. "Ich mache das, was mir meine Eltern verbieten würden: Ich wähle diesmal CDU." Im Gyros-Laden ein paar Meter weiter bringt Wilbert Kalinski (29) seine politische Meinung so auf den Punkt: " CDU-Spitzenkandidat Jürgen Rüttgers ist nicht mein Kumpel, er ist mir auch nicht sympathisch, dennoch wähle ich ihn." Die SPD habe einen Denkzettel verdient. Der Tenor: "Schlechter kann es die CDU auch nicht machen."

Die aktuelle Kapitalismus-Kritik geht an Kosti & Co. vorbei: zu theoretisch. Daß etwas nicht stimmt im System, spüren sie jeden Tag. "Da brauch' ich nur die Augen aufmachen und durch Schalke gehen", sagt Günther Kostrzewa.

Schräg gegenüber hat Ute Bolins alle Hände voll zu tun, ihr Friseursalon gleicht einer Wallfahrtsstätte: Blau und Weiß in allen Variationen. Schalke 04 spielt um die Vizemeisterschaft und um den Pokalsieg, da zählen passend gefärbte Haare im Viertel zum optischen Kick. "Die Leute lieben Schalke, Stadtteil wie Verein - trotz allem", sagt sie. "Einmal Schalker, immer Schalker." Das Politklima indes wandele sich: "Die Menschen schwenken um." Jahrzehntelang rote Bastion mit SPD-Mehrheiten bis knapp 60 Prozent, könne sich Gelsenkirchen bei dieser Landtagswahl zu einer schwarzen Hochburg entwickeln. "Laßt mich mit Politik in Ruhe", bittet Hans-Ulrich Müschner (59), ebenfalls das ganze Leben auf Schalke zu Hause. "Sonst muß ich mich nur aufregen." Wichtiger seien große Fußball-Triumphe.

Hier und da steht ein Wahlplakat am Straßenrand - der S04 jedoch siegt in der lokalen Präsenz haushoch. In den Seitenstraßen fernab des stillgelegten und zur Heimstätte für Obdachlose und Junkies verkommenen Schalker Bahnhofs stehen liebevoll renovierte Reihenhäuser mit akkurat gepflegten Vorgärten. Kleine Läden sorgen für ein individuelles Milieu, in dem das Pläuschchen über den Jägerzaun noch zum guten Ton zählt.

Schlimm sieht es in Schalke-Nord aus, im Schatten der Autobahn 42. Baggerarbeiten an der neuen Abfahrt Schalke verstärken die Tristesse. Bis zur Fußball-WM 2006 soll alles fertig sein. Eine Arbeitslosenquote von teilweise mehr als 35 Prozent sowie ein Ausländeranteil von 18 Prozent haben die Stadtverwaltung genötigt, ein spezielles Förderprogramm aufzulegen, das zarte Früchte trägt.

Der politische Blick allerdings geht nach Berlin. Die meisten Angesprochenen meinen unisono: "SPD? Nein danke!" Es scheint, als werde Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen wegen Rot-Grün im Bund abgestraft.

"Die SPD ist doch keine Arbeiterpartei mehr", flucht Günther Philipp (64), einstmals Arbeiter im Stahlwerk Hülsenstraße. Zwar ist seine Stimmung ob der jüngsten Niederlagen des FC Schalke im tiefschwarzen Bereich, dennoch glimmt ein bißchen Hoffnung. Wöchentlich 48 Euro werden in Tippscheine investiert. Bei Fritz in Ernst Kuzorras altem Lottoladen. Wo sonst.

Viele im Bezirk treffen sich zum Fachsimpeln über Fußball, Politik und das Leben so ganz allgemein im Fanlokal "Auf Schalke". Man kennt sich, meist jahrelang. "Es mangelt an einer festen Infrastruktur, an Geschäften", sagt Rolf Rojek (50), Vorsitzender des Schalker Fanclub-Verbandes. 24 feste Mitarbeiter kümmern sich um bundesweit 1450 Fanclubs mit 54 000 Mitgliedern. Rojeks Fazit: "Der Stadtteil Schalke stirbt." Mitstreiter Ludwig Müller sieht es ähnlich: "Wenn es den Fußball nicht gäbe, wär'n die Lichter hier schon aus."

Draußen geht Günther Kostrzewa vorbei. Zur Haltestelle der Straßenbahn 302, die Gelsenkirchen mit Wattenscheid und Bochum verbindet. "Na klar bin ich sauer auf die Sozis", sagt er abschließend. Dennoch obsiege bei ihm der Optimismus. Weil die von ihm betreute B-Jugend des FC Schalke 04 Anfang Juni im Finale steht und zum achten Mal Deutscher Meister werden kann. Und weil alle seine sieben Kinder Arbeit haben: "Dat ist ein Wunder!"

"Gruß nach Hamburg", auch dort gebe es zwei Schalke-Fanclubs, sagt Kosti zum Abschied. Er muß los, seinen Urenkel Leon besuchen. "Der kann noch nicht Mama und Papa sagen", verrät Kosti. "Aber Schalke."