Helmut Schmidt beklagt die Übermacht von Funktionären und den Mangel an Denkern in der deutschen Politik. In einer Rede, die der Altkanzler zum Abschied seines Leibarztes Prof. Heiner Greten vom UKE hielt, rief er Wissenschaftler auf, sich in der Politik zu engagieren, ihre “Bringschuld“ gegenüber der Gesellschaft abzutragen. Redeauszüge

Einige bedeutende Ärzte haben Geschichte gemacht - von Hippokrates über Galen bis hin zu den Deutschen Robert Koch und Rudolf Virchow. Virchow ist ein großer medizinischer Forscher und ein Erneuerer gewesen. Seine Wirkungen ragten weit über die Medizin und die Hygiene in andere Wissenschaften hinein. Zugleich aber war er ein sozial engagierter Politiker, zunächst ein formidabler Gegner Bismarcks im preußischen Verfassungsstreit und später ein liberaler Kämpfer gegen den Ultra-Montanismus.

Wenn wir uns heute in unserer politischen Klasse umschauen, so begegnen wir ganz wenigen Ärzten und noch weniger herausragenden Wissenschaftlern. Vielmehr sind unsere Parlamente vornehmlich von Juristen bevölkert, von Lehrern und anderen Staatsbeamten, von Funktionären der Verbände, der Gewerkschaften und der Parteien. Die Politiker bringen im Durchschnitt eine gerade noch passable Allgemeinbildung mit. Der Durchschnitt überwiegt. Jedoch allzu selten sind die exzellenten Denker, die zugleich tatkräftige Tuer sind.

Ich halte diesen Zustand weder für ungewöhnlich noch für sonderlich zukunftsträchtig. Mir scheint, eine der mehreren Ursachen der politischen Abstinenz der allermeisten Wissenschaftler liegt in ihrer fast ausschließlichen Hingabe an ihren wissenschaftlichen Beruf. Ihre fast totale Hingabe an die Frage "Was kann ich wissen?" ist menschlich nicht zu tadeln. Sie kann aber zur Einengung des Blickfeldes führen. Sie kann auch zur Verengung der nächsten Frage Immanuel Kants führen: "Was soll ich tun?" - nämlich zur Beschränkung auf das eigene berufliche Feld. Auch solche Selbstbeschränkung ist menschlich durchaus nachvollziehbar. Gleichwohl kann dann aber für Gesellschaft und Staat ein Defizit bleiben.

Die letzte Frage im Kanon des Königsberger Philosophen war: "Was ist der Mensch?" Eine Teilantwort darauf hat Aristoteles schon vor 2000 Jahren vorweggenommen: Der Mensch ist ein zoon politikon. Auch der Wissenschaftler des 21. Jahrhundert ist ein zoon politikon.

Wenn zu unseren Lebzeiten Carl-Friedrich von Weizsäcker definiert hat, Wissenschaft sei sozial organisierte Erkenntnis-Suche, so sprach er eine offensichtliche Wahrheit aus; denn moderne wissenschaftliche Forschung ist auf ein erhebliches allgemeines Niveau ökonomischer Zivilisation, urbaner und politischer Zivilisation angewiesen. Kein Astrophysiker kann aus seinen persönlichen Fähigkeiten und seinem Vermögen allein die Rakete, den Satelliten und das Weltraum-Teleskop herstellen, die er für seine Forschung benötigt. Kein Arzt kann allein eine neue Transplantationsmethode entwickeln.

Vielmehr bedarf die Wissenschaft weitestgehend der Hilfe und der Alimentation durch die Gesellschaft. Weizsäckers Definition war zwar eigentlich nur eine spezifizierende Wiederholung der aristotelischen Erkenntnis; zugleich war sie aber ein wenig zu elegant. Denn eigentlich hätte er deutlicher und vollständiger sagen sollen: Wissenschaft ist von der Gesellschaft organisierte und finanzierte Erkenntnissuche.

Denn ob es um die 12 000 C4-Professoren oder um die zwei Millionen Studenten oder um die Universitäten insgesamt geht (inklusive ihrer Kliniken), um die Großforschungseinrichtungen des Bundes, um die Institute der Max-Planck-Gesellschaft, um die Institute der Helmholtz-Gesellschaft oder der "Blauen Liste": Überall geht es immer auch um deren Finanzierung. Manchen Wissenschaftlern ist es egal, ob das Geld vom Staat kommt oder aus privaten Quellen, in jedem Falle aber fordern sie mehr Geld für die Wissenschaft.

Ich halte seit langen Jahrzehnten die Forderung nach mehr Geld für die Forschung für gerechtfertigt, nicht schlechthin für die Wissenschaft, sondern speziell für die Forschung. Denn seit wir Deutschen uns wieder im internationalen Wettbewerb befinden und uns darin behaupten müssen - das heißt: seit den 1960er Jahren -, liegt es klar und deutlich zutage, daß wir unseren vergleichsweise hohen ökonomischen Lebensstandard nur dann werden halten können, wenn wir uns immer wieder zu neuen Leistungen und neuen Produkten befähigen; wenn wir also die dafür notwendige Grundlagenforschung und die an der Anwendung orientierte Forschung vorantreiben; und wenn Deutschlands Ingenieure und Techniker, Ärzte und Pharmakologen, Unternehmer und Manager, wenn unsere Gesellschaft als Ganze die Forschungsergebnisse tatkräftig in tatsächlichen Entwicklungen verwirklicht.

Die Finanzierung der Forschung wird hierzulande im entscheidenden Maße vom Staat, das heißt vom Steuerzahler aufgebracht. Infolgedessen entscheiden weitgehend die Politiker. Die wissenschaftlichen Forscher wenden sich deshalb logischerweise vornehmlich an die Politik, wenn sie mehr Geld verlangen.

Allerdings nur ganz, ganz selten habe ich dabei auch gehört, wem der Staat das verlangte Geld wegnehmen soll! Wer aber eine höhere Priorität herstellen will, zum Beispiel allgemein für die Universitäten oder speziell für die Forschungsgemeinschaft (DFG) oder speziell für die Max-Planck-Gesellschaft, der muß den Finanzierungsanteil anderer Aufgaben des Staates herunterstufen. Hier stehen zur Auswahl die Sozialleistungen oder die Bundeswehr oder der Ausbau des Autobahnnetzes oder die Theater und so fort. Jedoch über solche unpopulären Entscheidungen schweigen die Wissenschaftler vornehm. Auch die Politiker halten sich - aus Angst vor dem Wähler - hier zumeist weit zurück.

In unserer Zeit kommt es aber entscheidend darauf an, daß Menschen mit Überblick, Leute mit Wissen, mit Erfahrung und mit rationaler Urteilskraft sich ausreichend Gehör verschaffen. Es kommt dabei durchaus auf die Wissenschaftler an! Weil es aber mühsam ist, oft sogar unappetitlich, sich öffentlich Gehör zu verschaffen, so schweigen die meisten derjenigen Wissenschaftler, die einen ausreichenden Gesamtüberblick haben.

Deshalb appelliere ich an die Professoren, sich mit ihrem Wissen und mit ihrem Urteil einzumischen! Denn vornehme Distanz zur Politik, Hand in Hand mit der eingeklagten Autonomie der Wissenschaft, kann in einer Massen-Demokratie durchaus zum Schaden auch der Wissenschaft ausgehen.

Deshalb spreche ich von der Bringschuld der Wissenschaft gegenüber der Gesellschaft. Diese Schuld muß immer wieder dadurch abgetragen werden, daß die Wissenschaftler erklären und für den Laien verständlich machen, was sie tun, was sie erreicht haben, was sie erhoffen - und was sie besorgt. Wenn jedoch die Forscher unter sich bleiben sollten, dann können sie sich nicht über Vernachlässigung durch die Massengesellschaft und durch deren Politiker beklagen.

Ich beteilige mich nicht an der allgemeinen Klage über die Universitäten. Eher möchte ich empfehlen, jeder möge an seiner eigenen Universität Schritt für Schritt für Erneuerung sorgen. Das endlose Berufungswesen, die zahllosen Evaluierungsgutachten, die zahllosen Studienabbrecher, der Verzicht der meisten Fakultäten auf Zwischenprüfung und Zwangsexmatrikulation usw. und so fort - die Liste der heutigen Mißstände ist lang.

Natürlich hat Karl Jaspers immer noch recht, der vor einem halben Jahrhundert verlangt hat, die Universitäten müßten mehr sein wollen als bloße Ausbildungsstätten für künftige Berufe. Gleichwohl müssen Inhalt und Gestalt der deutschen Massenuniversitäten sich erneuern. Ein Dienstleistungsbetrieb braucht betriebswirtschaftliches Management, nicht aber fiskalische Hoheitsverwaltung und ewigen Gremiensalat. Wie man das machen kann - und dabei doch zugleich seine pädagogische Begeisterung noch steigern kann, das zeigt beispielhaft die Bucerius Law School in Hamburg; an deren Begründung und Ingangsetzung habe ich mich in den 1990er Jahren beteiligt - nicht etwa um der Juristen willen, sondern vielmehr wegen des modernen Konzeptes, das diese Hochschule willentlich zum handelnden Subjekt gemacht hat.

Wenn vor Jahren Wolfgang Frühwald, damals Präsident der DFG, beklagt hat, die Universitäten seien als handelndes Subjekt aus der Reformdebatte ausgeschieden, weil der "Organisations-Dilettantismus" über sie "hereingebrochen sei", dann war er etwas zu vornehm, die vollständige Wahrheit auszusprechen. Die ganze Wahrheit wäre gewesen: Der alles regeln wollende organisatorische Dilettantismus der Politiker und Bürokraten hätte sich dann nicht so überwältigend über die Universitäten ergießen können, wenn denn die deutschen Universitätsprofessoren etwas mehr Zivilcourage aufgebracht hätten, wenn sie sich in ihrer Mehrheit nicht in ihr jeweiliges Fach verkrochen, wenn sie den seit Ende der 1960er Jahre wuchernden Prozeß der Deformation eben nicht einfach hingenommen hätten. Und die bedeutenden Ausnahmen bestätigen nur die Regel.

Mit dem doppelten Appell, die Bringschuld zu bedienen und sich mit dem eigenen Urteil in die öffentliche Debatte einzumischen, wende ich mich besonders an die Forscher. Gerade weil ich ihre Überzeugung teile, daß im Interesse der Nation Grundlagenforschung und anwendungsorientierte Forschung (wie zumeist in der Medizin) in deutlich höherem Maß unterstützt und alimentiert werden müssen, deshalb meine Aufforderung, sich öffentliches Gehör zu verschaffen. Aber eben nicht allein mit Klagen und Forderungen, insonderheit nicht mit irreführenden Übertreibungen oder mit falschen Maßstäben.

Ein Beispiel für Übertreibung ist der angebliche Brain Drain junger deutscher Forscher in Richtung USA. Tatsächlich gehen junge Wissenschaftler nicht nur aus Deutschland nach Amerika. Sie werden angezogen von der großzügigen Finanzierung der Forschung in den USA; inzwischen kehren sie übrigens zunehmend später in ihre eigenen Länder zurück.

Ich glaube auch, eine bereits langanhaltende Erkrankung zu erkennen, auf deren erfolgreiche Behandlung es à la longue entscheidend ankommen wird. Ich spreche von dem Geburtenrückgang seit dem 1960er Jahrzehnt, der sich beschleunigt hat, und von der zunehmenden Überalterung unserer Gesellschaft. Schon im Jahre 2010 werden auf 100 Deutsche, die dann im Erwerbsalter (20 bis 60 Jahre) stehen, 55 Personen kommen, die älter sein werden als 60 Jahre. Gleichzeitig schrumpfen wir der Gesamtzahl nach. Gleichzeitig wächst aber außerhalb Europas die Weltbevölkerung sehr schnell: von anderthalb Milliarden im Jahre 1900 auf sechs Milliarden im Jahre 2000 und wahrscheinlich neun Milliarden im Jahre 2050.

Wir haben den dramatischen Abfall der deutschen Geburtenrate von mehr als zwei Kindern je Frau auf heute knapp 1,3 bisher kaum zur Kenntnis genommen. Über die Folgen denken wir einstweilen kaum nach. Von Therapien gar ist nur in unzureichenden Ansätzen die Rede.

Wenn Rudolf Virchow heute lebte, so wäre er wohl alarmiert. Virchow sah über den Bereich der Medizin weit hinaus; er erkannte, worauf es ankam. Und als zoon politikon sprach er es laut und deutlich aus. Sein Beispiel möchte ich den heutigen medizinischen Koryphäen vor Augen stellen. Denn das heutige Phänomen des Vitalitätsverlustes des ganzen Volkes sollte kaum einer anderen Fakultät näher liegen als der Medizin. Der Mediziner jedenfalls weiß, daß wir es keineswegs mit einer massenhaften biologischen Mutation zu tun haben; denn die heute Lebenden haben die gleichen Gene, die gleichen Erbanlagen mitbekommen, die schon unsere Eltern und Großeltern hatten. Das seit bald vier Jahrzehnten beobachtete Absinken unserer Geburtenrate - weit unter das Maß, welches den Bestand unserer Gesellschaft aufrechterhalten würde! - hat vielmehr kulturelle Ursachen. Sie liegen in den Erfahrungen des Weltkrieges, vor allem in der Emanzipation der Frauen, ihren veränderten Lebenszielen, der zunehmenden Auflösung der ehelichen und familiären Bindungen und natürlich in der Pille.

Sofern dies komplexe Syndrom dauerhaft ohne Therapie bleiben sollte, so werden wir absinken - trotz all unserer wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Effizienz.

Ich habe kein Rezept anzubieten. Wohl aber glaube ich, die Wissenschaftler mehrerer Fakultäten und Disziplinen sollten sich dringend um dieses Bündel von Problemen kümmern. Wir brauchen dringend eine öffentliche Diskussion darüber.