„Kleine Nazis“, sagt L. Erschreckend sei das gewesen in Cottbus, wo er gerade einen Vortrag vor Schülern gehalten habe. Förderschule, achte bis zehnte Klasse. Er konnte sie nicht schocken, erntete Desinteresse. Sogar als er von seinen Straftaten erzählte. Davon, dass er Hass gegen Ausländer schürte. Davon, dass er zuschlug, meist mit der nackten Faust, brutal. Er scheint erleichtert, nun wieder in Berlin zu sein, in Pankow. In dem ihm mittlerweile so vertrauten Büro von „Exit“, dem einzigen privaten Aussteigerprogramm für Neonazis.

L. wirkt erleichtert und doch frustriert. Frustriert über "diese Jungs, mit ihren Thor-Steinar-Klamotten, wie sie demonstrativ ihre Kopfhörer aufsetzen, um ihm nicht zuhören zu müssen". Der 31-Jährige stockt, schüttelt den Kopf, als könnte er damit das Bild der Schüler aus seiner Erinnerung wegschütteln. Doch das funktioniert nicht. Dafür kennt er es zu gut. Dafür hält er seit drei Jahren diese Vorträge. Nicht nur im Osten. Auch im Westen. Das Thema: Er. Sein früheres Leben. Als Neonazi. Heute ist er ein Aussteiger. Heute steht er auf der anderen Seite, hilft anderen Aussteigewilligen, nachdem "Exit" ihm geholfen hat. Ein schleichender Prozess sei das gewesen. Denn die Szene verlässt man nicht einfach so. Das weiß Bernd Wagner am besten. Der Kriminologe leitet "Exit". "Seit der Gründung 2000 haben mehr als 30 Neonazis beim Ausstieg aus der Szene beraten", sagt Wagner. Einer davon war L. "Damit sind wir erfolgreicher als die staatlichen Programme." So erfolgreich, dass auch das Bundesamt für Verfassungsschutz auf seinen Internetseiten auf die Initiative verweist. Doch "Exit" droht das Aus (s. u.). Dabei ist die Bedrohung von Rechts nach wie vor groß. Laut einer aktuellen Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) sind mehr als fünf Prozent der 15-jährigen Jungen und Mädchen Mitglied in einer rechtsextremistischen Gruppe. Über mögliche Ursachen wird spekuliert: Armut, Arbeitslosigkeit, mangelnde Perspektiven, die Anziehungskraft rechtsradikalen Lifestyles.

Einer wie L. hätte ohne "Exit" die Rückkehr ins normale Leben wohl nicht geschafft. Eine ehemalige Führungsperson. Einer, der Ausländer und Andersdenkende für niedere Menschen hielt, Demokratie und Wahlen ablehnte. Heute vermutet man bei seinem Anblick nichts davon: lässige Baggyhose, Kapuzenpullover, Sportschuhe und Baseball-Cap, das die Geheimratsecken bedeckt. L.s Haar lichtet sich, er bekommt eine Glatze, die er sich früher absichtlich schor. Ironie des Schicksals. "Aber am Äußeren kann man Neonazis nicht erkennen, sie bedienen sich am Stil anderer Subkulturen" wie der linken autonomen Szene oder Hip-Hop. "Sie können vollkommen der Gesellschaft angepasst sein. Nicht auffallen", sagt L..

Nicht nur die Studie des KFN stützt die Angst vor einer rechten Renaissance. Auch die Zahl rechtsextremistischer Straftaten ist gestiegen: 2007 wurden laut Bundesinnenministerium 11.000 Taten registriert, 2008 waren es 14.000. Auch L hat in den ersten drei Monaten dieses Jahres die Schlagzeilen über die Aktivitäten von Neonazis verfolgt. Wie im Februar, als 6000 Rechte in Gedenken an den "Bombenholocaust" in Dresden marschierten. Unter ihnen NPD-Anhänger, Kriminelle, Schläger Menschen, zu denen L. einmal gehörte.

Dabei hätte dessen Leben anders verlaufen können. Vielleicht anders verlaufen müssen, wenn Menschen genauer hingesehen hätten. "So wie es heute bei den Jugendlichen in Cottbus und anderswo sein sollte", sagt er. Geboren wird L. in Dannenberg, 20 Kilometer vom Atommülllager Gorleben entfernt. Seine Mutter, eine junge Waldorfpädagogin, lebt in einer Anti-AKW-Wohngemeinschaft, einer Kommune, in der auch der Sohn seine ersten Lebensjahre verbringt. "Man würde die Erziehung meiner Mutter wohl anti-autoritär bezeichnen", sagt L.. Seinen Vater lernt er nie kennen. Die Großeltern halten die Hippie-WG nicht geeignet für ein Kind und nehmen den Enkel an den Wochenenden zu sich.

Dort bietet sich dem kleinen Jungen ein ganz neues Bild von Erwachsenen. Es herrschen Regeln und Ordnung. "Mein Großvater erzählte mir immer vom Krieg und seiner Zeit als Wehrmachtssoldat. Er hielt an dieser Zeit fest, obwohl er sechs Jahre in Kriegsgefangenschaft war. Mit Hitler-Deutschland setzte er sich nicht auseinander." Geschichten von der Hitlerjugend, vom Zeltlager und Kameraden am Lagerfeuer das hört sich nach Abenteuer an, nach Gemeinschaft, einer festen, vertrauten Struktur. Der Junge ist fasziniert, fühlt sich geborgen bei seinem Großvater, liebt ihn. Auch heute noch. Die erste starke Hand in seinem Leben. Sein Held.

L. muss acht oder neun sein, als er seine Mutter fragt, ob er nicht auch zu dieser tollen Hitlerjugend gehen dürfe. Sie hält es für eine vorübergehende pubertäre Phase.

Im Geschichtsunterricht der achten Klasse auf der Waldorfschule fängt er an, die Nazizeit zu verteidigen. Seine Mutter erlaubt ihm, eine Bomberjacke zu tragen. Später soll sie dem Hertha-BSC-Fan eigenhändig einen Aufnäher mit der Aufschrift "Unsere Ehre heißt Treue" aufnähen. Dass der Spruch zur Waffen-SS gehörte, weiß die Frau nicht. "Spätestens zu dieser Zeit hätte sie einschreiten müssen", sagt L. Er redet nicht viel über seine Mutter. Sagt nicht, dass er ihr Vorwürfe macht. Wohl aber anderen Eltern, "die überhaupt nichts darüber wissen, wo oder mit wem sich ihre Kinder in ihrer Freizeit herumtreiben, was sie für Musik hören". Böhse Onkelz, Störkraft, Endstufe, Werwolf oder Radikal sind damals L.s Bands. Die Texte drehen sich ums Saufen, stumpfe Gewalt und "dreckige Ausländer". Dann kommt der Fußball dazu, wo ein "Wir" und "die" am einfachsten auszumachen ist. "Wenn ausländische Spieler aufs Feld liefen oder ein Tor schossen, grölten wir unsere ausländerfeindlichen Parolen. Das ist auch heute noch normal bei Hertha-Spielen, nicht nur im Fan-Block", sagt L.

In dieser Zeit wird er zum ersten Mal festgenommen. Grund ist der SS-Aufnäher. Ein perfekter Mitläufer, der sich auf Bolzplätzen von rechten Rattenfängern ansprechen lässt und deren Veranstaltungen besucht. Heute organisiert er selbst Veranstaltungen, um Jugendliche zu warnen. Deprimierend sei das, oft mühsam. So mühsam wie früher sein verbissener Wille, dazuzugehören. Zu funktionieren. Als Kamerad.

Der Metallbauer beschäftigt sich auch intellektuell mit dem nationalsozialistischen Weltbild, liest das "kleine ABC des Nationalsozialisten" von Goebbels oder Artikel über die Holocaustleugnung. Aus dem Mitläufer wird der Gründer der mittlerweile verbotenen "Berliner Alternative Süd-Ost" und des "Märkischen Heimatschutzes". L. spricht nun selbst Jungs auf Bolzplätzen in Berlin für "die Sache" an, verteilt Flugblätter, baut ein "nationales Jugendzentrum", macht weiter bis er der Mutter eines seiner Kameraden in die Augen schauen muss: 2005 werden in Potsdam zwei junge Männer aus der linken Szene brutal zusammengeschlagen. Einer der festgenommenen Tatverdächtigen ist ein Freund von L. Er bittet ihn am Telefon, ihm Kleidung in die Haftanstalt zu bringen. L. fährt zu ihm nach Hause und trifft dort die Mutter an. "Du hast das Leben meines Jungen zerstört. Ist es das, was du willst?", fragte sie ihn. Er wird diesen Ausdruck in ihrem Gesicht niemals vergessen.

Diffuse Gefühle von Wut, Scham, Verantwortung und eine Frage öffnen ein Zeitfenster, das ihn nachdenken lässt. Zweifeln lässt. "Was stellst du eigentlich dar?", fragt ihn ein Bekannter der Opfer von Potsdam. Er weiß keine Antwort. "Was stellte ich denn dar? Kein Schulabschluss, eine halbherzig durchgezogene Lehre, keine Arbeit und eine Polizeiakte." Wie es zu diesem Wandel kam, kann er heute nicht genau erklären. Nach und nach werden ihm all die Widersprüche der Szene klar. Seine "Freunde", die über "Pollacken" schimpfen und am Wochenende nach Polen ins Bordell fahren. Parteisitzungen beim Kroaten oder Türken. Kameraden, die die deutsche Familie hochhalten, aber keinen Unterhalt für ihre Kinder zahlen.

"Ich konnte nicht mehr weitermachen", sagt L. Er ist tief genug drin, um zu wissen, dass er es ganz alleine nicht schaffen kann. Er meldet sich bei "Exit", lässt sich beraten, zieht um, hält die Adresse geheim, noch heute. Er verabschiedet sich von seinem alten Leben, seinen alten Freunden. "Ich wünsche Dir viel Kraft. Du wirst sie brauchen", schreibt einer von ihnen in eine SMS. Eine verkappte Drohung.

L. steigt aus, taucht aber nicht ab. Vorsichtig sei er zwar geworden, vor allem was sein Gesicht in der Öffentlichkeit betrifft. Nur auf die Vorträge an Schulen will er deshalb nicht verzichten. Die Demonstration von Dresden und die aktuellen Zahlen hält% er für bedenklich. "Vielleicht klingt es übertrieben, aber in Verbindung mit der Finanzkrise erinnert mich die derzeitige Situation stark an die Weimarer Republik. Und was danach kam, wissen wir ja."

Er hat sein Fachabitur gemacht, will Sozialarbeiter werden. "Ich habe mir geschworen, etwas wieder gutzumachen, auch wenn ich nicht ewig der Aussteiger bleiben möchte", sagt er. L.’s neues Leben hat begonnen, auch wenn seine Vergangenheit ein Teil davon bleiben wird. Seine Bewährung läuft.