2007 ging das Atomkraftwerk Krümmel in Geesthacht nach einem Transformatorenbrand vom Netz. Bis zum Ende des Jahres soll es wieder arbeiten. Bis dahin - nach der Bundestagswahl - könnte auch der Atomausstieg in Deutschland Geschichte sein.

Drinnen laufen Männer mit nackten Beinen in weißen Kitteln umher. Sie tragen schwarze Socken und giftgrüne Badeschlappen. Manche von ihnen sitzen herum, trinken einen Kaffee, schauen aus dem Fenster, pfeifen ein Lied. Draußen auf dem Hof fährt auf einem Tieflader ein blauer Castor-Behälter vorbei. Niemand beschwert sich, niemand demonstriert. Ein sonniger Tag. Ein Bild des Friedens in Geesthacht an der Elbe.

Seit fast zwei Jahren steht das Atomkraftwerk Krümmel südöstlich von Hamburg still. Ende Juni 2007 brannte auf dem Gelände des Kraftwerks ein Transformator aus und lieferte Fernsehbilder, die Atomkraftgegnern sehr entgegenkommen: Rauchsäulen über einem Reaktor. So wie 1986 in Tschernobyl. Fast zeitgleich mit Krümmel ging auch das Atomkraftwerk Brunsbüttel an der Unterelbe wegen eines Kurzschlusses vom Netz. Beide Kraftwerke stehen seither still, aber keineswegs leer. Hunderte von Arbeitern und Ingenieuren feilen daran, die Anlagen erst auf den neuesten Stand der Technik und sie dann wieder ans Netz zu bringen. Der Betreiber Vattenfall Europe nennt keinen Zeitpunkt für den Neustart. Doch das Wiederanfahren von Krümmel und Brunsbüttel könnte zum Jahresende hin zeitlich genau zusammenfallen mit einem Comeback der Atomkraft in Deutschland. Mit dem Ende des Atomausstiegs nach der Bundestagswahl. Union und FDP wollen - wenn es im September für eine Koalition reicht - den Ausstieg in einer neuen Regierung sofort kippen.

Durch drei Kontrollen muss man gehen, wenn man in die Reaktorsicherheitszone von Krümmel gelangen will. Die Männer in den weißen Kitteln stehen bei den Aufenthaltsräumen vor der dritten und wichtigsten Sicherheitsschleuse. Auf eine Zigarettenpause, einen Kaffee oder einen Gang zur Toilette sind sie von ihrer Arbeit aus dem Inneren des Kraftwerks herausgekommen. Rauchen und Essen sind dort streng verboten, nicht einmal Kaugummi ist erlaubt, und Toiletten gibt es hinter der Barriere nicht. Die Arbeitskleidung der Männer bleibt, wenn sie herauskommen, im Sicherheitsbereich zurück, ihre Zivilkleidung liegt in den Spinden. Deshalb tragen sie im Vorraum keine Hosen.

Am Empfang vor der dritten Schleuse werden die "Dosimeter" verteilt, die während des Aufenthalts im Kontrollbereich die Stärke der radioaktiven Strahlung messen. Jeder, der hineingeht, muss so ein Gerät tragen. Joachim Kedziora geht voran, so wie er schon Tausende Male in dieses Kraftwerk hineingegangen ist. Es ist sein Kraftwerk. Der 61-Jährige hat es mit aufgebaut, damals, Anfang der 80er-Jahre, er hat später am Steuerpult den Reaktor "gefahren", hat sich mehr als zehn Jahre lang immer weiter qualifiziert bis zum "Kraftwerksmeister", vergleichbar einem Ingenieur, aber mit viel mehr Erfahrung in der Praxis eines Reaktors. Seit 28 Jahren arbeitet Kedziora in Krümmel, mittlerweile als Ausbilder und als Leiter des Informationszentrums am Kraftwerk. Und als Fremdenführer in den Tiefen des Reaktors.

"Mauern wie in einem Bunker", sagt Kedziora im Innern des Kontrollbereichs. Bedächtig geht er durch das Gewirr der ausgeleuchteten, scheinbar endlosen Gänge entlang den blassgrauen Wänden. Die Luft wirkt flau. An den Wänden stehen Meterangaben, sie zeigen die Höhe über Normalnull innerhalb des Gebäudes an. Ohne die Markierung wäre die Orientierung in dem riesigen Betongebäude noch schwieriger, denn neben den Etagen gibt es etliche Zwischenebenen. Wahrscheinlich ist es leichter, sich in diesem Labyrinth zu verlaufen und dabei zu verhungern und zu verdursten, als durch Radioaktivität zu sterben.

Oben auf der Besuchergalerie blickt man in das türkisfarbene "Abklingbecken", einen Pool mit Tausenden Kubikmetern doppelt destillierten Spezialwassers. Dort werden die heißen, abgebrannten Uran-Brennelemente für einige Jahre zwischengelagert, wenn sie aus dem Reaktorkern kommen. Später werden sie hier, hoch oben im Reaktorhaus, unter Wasser in die Castor-Behälter verladen und dann erst einmal in das Zwischenlager neben dem Kraftwerk gestellt. Bis zur Endlagerung, irgendwann.

Kedziora führt uns in das Innerste des Kraftwerks, den fast 30 Meter hohen Reaktorsicherheitsbehälter, ein riesiges Ei aus Stahlbeton. Innerhalb des Sicherheitsbehälters hängt der eigentliche Reaktordruckbehälter, in dem die Kernreaktion erzeugt und gesteuert wird. Während des Reaktorbetriebs wäre der Aufenthalt im Sicherheitsbehälter tödlich. Nun ist er geöffnet, begehbar durch eine Luke wie eine große Raumkapsel. "Wir nutzen die Zeit der Abschaltung und sehen uns das Kraftwerk im Detail an. Wir tauschen alles aus, was heute und in den kommenden Jahren zum Austausch fällig ist und werden würde. So ziehen wir die nächsten Revisionen teilweise mit vor", sagt Kedziora. "Wenn das alles fertig ist, wird der Reaktor wieder angefahren, und weil das ein sehr komplexer Vorgang ist, gibt es dafür keinen exakten Termin."

Krümmel wird fit gemacht für womöglich viele weitere Jahre. Wenn der Atomausstieg tatsächlich umgesetzt würde, müsste das Kraftwerk in Geesthacht schon um 2017 herum für immer vom Netz gehen. Dann wäre die Anlage - inklusive aller Stillstände - etwas mehr als 30 Jahre lang gelaufen. In den USA gibt es mittlerweile längst erweiterte Betriebsgenehmigungen für Atomkraftwerke, die eine Gesamtlaufzeit von bis zu 60 Jahren vorsehen. "Man kann in Deutschland nicht von alten Anlagen reden, denn die Kraftwerke werden ja immer wieder nachgerüstet und modernisiert", sagt Kedziora. "Die deutschen Kernkraftwerke stehen in der Blüte ihrer Jahre."

Die Spitzenpolitiker von CDU/CSU und FDP, die Chefs der in Deutschland tätigen Stromkonzerne, viele Wirtschaftsbosse sehen das ebenso, und das Deutsche Atomforum als Lobbyorganisation ohnehin: "Die Laufzeitverlängerung unserer Kernkraftwerke gehört zu einem nachhaltigen Konjunkturprogramm", sagt Walter Hohlefelder, Präsident des Atomforums, "zumal sie im Gegensatz zu den anderen Maßnahmen den Steuerzahler nichts kostet". Mehr Versorgungssicherheit, mehr Klimaschutz, mehr Nachhaltigkeit, all das soll in der Wundertüte verlängerter Laufzeiten für die Reaktoren stecken. Beim Abwägen der Argumente für oder gegen neigt sich die Waage so deutlich in Richtung Atomkraft wie seit vielen Jahren nicht mehr. Spätestens das Unglück von Tschernobyl markierte eine tiefe Zäsur für die Technologie. Die Katastrophe in der Ukraine, die jahrelangen politischen und auch physischen Auseinandersetzungen an den Standorten der deutschen Atomanlagen hatten die Befürworter der Atomkraft mürbe gemacht. Den "Atomkonsens" zwischen der rot-grünen Bundesregierung und der Stromwirtschaft im Jahr 2000 hielten sie für falsch, doch wenigstens ging der endlose, kraftraubende Kampf um die Nutzung der Atomkraft zu Ende. Die Bundesregierung garantierte den "störungsfreien Betrieb" der Anlagen bis zur Abschaltung des letzten Reaktors um das Jahr 2020 herum.

Neun Jahre später steht eine Zeitenwende bevor. Der Klimawandel ist trotz des Abkommens von Kioto nicht einmal in Ansätzen gestoppt, der Eintrag von Treibhausgasen in die Atmosphäre ist in diesem Jahrzehnt so stark gestiegen wie nie zuvor seit Beginn der Klimaaufzeichnungen. In Europa wächst die Abhängigkeit von russischem Erdgas, und gegen den Bau neuer Kohlekraftwerke sprießen die Bürgerinitiativen aus dem Boden wie die Pilze. Die politische Fangemeinde der Atomkraft wächst, nicht nur in Deutschland - plötzlich halten sich auch jene Staaten wieder die Option zur Nutzung der zivilen Kernspaltung offen, die jahrzehntelang zu den erklärten "Aussteigern" zählten, etwa Schweden, Italien und die Schweiz. Deutschland ist mit seinem "Atomkonsens" plötzlich nicht mehr Trendsetter, sondern altbacken - obwohl es weltweit bis heute kein Endlager für hoch radioaktiven Müll gibt, obwohl die Verbreitung auch nur der zivilen Atomtechnologie in Staaten wie Iran für Angst und Schrecken sorgt - wer mag garantieren, dass daraus nicht eines Tages eine iranische Bombe gebaut wird?

In Deutschland ist die Mehrheit der Bevölkerung nach wie vor dafür, dass am geplanten Atomausstieg festgehalten wird - rund 53 Prozent sprachen sich bei einer aktuellen Umfrage der GfK Marktforschung für die "Welt am Sonntag" dafür aus, nur rund 30 Prozent votierten für eine Verlängerung der Laufzeiten. Gegen die Leckagen und die desaströsen Sicherheitsmängel im niedersächsischen Atommüll-Lager Asse demonstrierten in der vergangenen Woche rund 15 000 Menschen mit einer fast 50 Kilometer langen Lichterkette. Der SPD-Politiker Michael Müller, Staatssekretär im Bundesumweltministerium und Veteran der Anti-Atomkraft-Bewegung, fürchtet "massive gesellschaftliche Konflikte", sollte der Atomausstieg nach der Bundestagswahl gekippt werden.

Für Joachim Kedziora hat es einen "Konsens" mit den Gegnern der Atomkraft nie gegeben. Die meisten Argumente der Protestler draußen sind ihm so fremd wie er umgekehrt ihnen fremd ist hier drin, hinter den dicken Betonmauern des Atomkraftwerks Krümmel, das wie eine schimmernde Trutzburg am Ufer der Elbe steht. "Wir sind hier ruhig und gelassen, was den sogenannten Ausstiegs-Konsens angeht", sagt er auf dem Weg zum Ausgang. "Wir wissen, was wir hier tun. Wir erfüllen einen gesellschaftlichen Grundauftrag."

Am Ausgang geht es noch einmal durch die Sicherheitsschleusen. "Keine Kontamination" sagen ihre Maschinenstimmen nach der Überprüfung. Draußen melden die Vögel den Beginn des Frühlings. Es tut gut, wieder im Licht der Sonne zu stehen.