Aber wofür? Wenn Helgoland nichts unternimmt, ist der wirtschaftliche Niedergang kaum aufzuhalten. Eine Sandaufspülung könnte die Wende einleiten, aber auch den Charakter der Insel verändern. Die Bewohner sind gespalten.

Helgoland. Gut eine Stunde nach dem Ablegen in Cuxhaven ist das Grau der Elbmündung verschwunden, und die "Funny Girl" stampft durch Nordseewasser, das so grün ist wie mancher der knapp 100 Passagiere um die Nase: "Hamburger Loch" sagen sie auf der Insel zu diesem letzten Abschnitt der Helgoland-Passage. Der freie Seeraum lässt den Wellen viel Platz, und der kleine "Inselversorger" schaukelt so heftig, dass Erbsensuppe oder Bockwurst mit Brot aus der Bordküche nur noch wenige Abnehmer finden. Viermal pro Woche verbindet die "Funny Girl" im Winter Deutschlands einzige Hochsee-Insel mit dem Festland. 125 000 Euro zahlt Schleswig-Holstein dazu, damit in dieser Jahreszeit überhaupt noch ein Schiff fährt. Falls es nicht zu stark stürmt.

"Ist eben so", sagt Insel-Bürgermeister Frank Botter. Einem Bergdorf würde man ja auch nicht vorwerfen, dass es gelegentlich eingeschneit ist, meint er lächelnd und wirkt doch besorgt. Der wuchtige Mann hat seine blaue Mütze mit dem Helgolandwappen über die wuscheligen Haare gezogen und raucht draußen an Deck eine Zigarette. Ende einer Dienstfahrt gewissermaßen. Wieder ging es dabei in Verhandlungen mit der Landesregierung um eine gesicherte ganzjährige Schiffsverbindung zur Insel. "Unsere Lebensader", wie Botter sagt.

Doch die ist seit einigen Jahren schon stark eingeschnürt. Dramatisch ist die Lage vor allem im Sommer. Zwölf Schiffe ankerten in den besten Zeiten der 70er- und 80er-Jahre auf der Reede, bis zu 800 000 Besucher pro Jahr wurden mit den offenen Börtebooten ausgebootet, wie es auf Helgoland heißt. Doch dann begann - mit kurzer Atempause nach der Wiedervereinigung - ein Niedergang. Nur noch 286 000 Gäste waren es 2008. Immer weniger Schiffe fahren die Insel an, zuletzt wurde die Linie von Bremerhaven eingestellt. Auch die Übernachtungszahlen sind kein Trost. Minus 22 Prozent in den vergangen fünf Jahren, meldet der Hotelverband Dehoga. 206 000 Übernachtungen wurden 2007 registriert - das vergleichbar große Wangerooge hat mehr als viermal so viele.

Das alles nagt an der Lebensfähigkeit der Insel. Viele junge Leute sehen keine Perspektive, ziehen weg. Lebten früher einmal fast 3000 Bewohner auf der Insel, so sind es nach jüngsten Statistiken nur noch knapp 1300. Im Winter müssen sich etliche Helgoländer arbeitslos melden - doch die Lebenshaltungskosten sind hoch. 16 Prozent gewann die die Linke bei den Kommunalwahlen 2008 - so viel wie in sozial gebeutelten Stadtteilen von Großstädten.

Nach zweieinhalb Stunden Fahrt kommt der Rote Felsen in Sicht. Durch einen Salzstock, der vor rund zwei Millionen Jahren tief aus dem Erdinneren hervorquoll, hat sich der markante Buntsandstein gehoben und die darüberliegenden Sedimentschichten durchbrochen. Ein Stück Gebirge mitten in der Nordsee, etwa 60 Kilometer vom Festland entfernt. In der Frühgeschichte gab es noch eine Landverbindung, das ungewöhnliche, heute etwa 60 Meter hohe Felsmassiv im weiten Marschenland war Begräbnisstätte. "Heiliges Land", aus dem der Name Helgoland wurde.

Heute klingt das eher nach Legoland, und der erste Eindruck ist auch so: Am Hafen schlendern die "Funny-Girl"-Passagiere an den bunten Hummerbuden vorbei. Kleine, schmale Pippi-Langstrumpf-Häuschen, in denen nur wenige Fischer Netze und Werkzeug lagern. Ein Museum, ein Imbiss oder auch eine Galerie sind dort inzwischen eingezogen. Jetzt im Winter sind sie verrammelt. So wie viele der Schnaps- und Fotoläden im Zentrum der Insel. Im Winter scheint das alte Helgoland weitgehend geschlossen. Eine berauschende Stille liegt über dem Dorf, gelegentlich nur vom Geräusch des Windes und der Wellen begleitet.

Manche mögen die Insel so viel lieber. Im Hotel Insulaner sind die Zimmer gerade jetzt oft ausgebucht. Im Frühstücksraum trägt man Wanderstiefel, und die Robbenbabys auf der vorgelagerten Düne sind hier das Hauptgesprächsthema. Mit Erfolg bietet das Haus sogar "Stormwatching-Tage" an, wenn es richtig zur Sache geht auf der Nordsee. Mit Fernglas und Wetterschutzkleidung rücken die Helgoland-Gäste dann an die Wellenfront des Eilands - und können sich abends in der Sauna vom wohligen Naturgruseln erholen.

Möglicherweise bringen solche Naturerlebnisse die Wende, auf die Helgoland so sehr hofft. Viel wird derzeit diskutiert auf der Insel. Der Ausbau der Landungsbrücke etwa oder auch eine Vergrößerung der Südspitze. Am spektakulärsten indes ist der Plan des Hamburger Bauunternehmers und Helgoländer Hoteliers Arne Weber, der die etwa 1000 Meter breite Meerenge zwischen Insel und Düne aufspülen will. Bis 1721 waren beide Teile durch eine Landbrücke noch verbunden, dann spülte eine Sturmflut das Stück Land einfach fort.

Mit gut zehn Millionen Kubikmeter Sand vom Meeresboden will Weber dieses Land zurückholen. So soll Platz für neue Yachthäfen, Hotels, lange Badestrände und einen familienorientierten Natur-Tourismus geschaffen werden. Eine Vision, die schon recht konkret geworden ist: Land und Gemeinde einigten sich kurz vor Weihnachten darauf, ein neues "Regionalentwicklungskonzept" aufzustellen, um die Insel wieder voranzubringen. Baustein davon soll auch die Weber-Idee sein. Ob er aber schon, wie erhofft, im nächsten Jahr loslegen kann, ist offen. Zuvor müsse noch "intensiv" mit der Bevölkerung diskutiert werden, sagt Bürgermeister Botter. Denn noch ist die Idee sehr umstritten auf der Insel. Manche fürchten, dass sie von Investoren umgekrempelt wird. Andere hoffen gerade durch die Weber-Idee auf die ersehnte Wende.

"Klar ist aber, dass das alte Geschäftmodell nicht mehr funktioniert", sagt Detlef Rickmers, Hotelverbands-Vorsitzender auf der Insel und Chef des Insulaner-Hotels. Das "alte Geschäftsmodell", das er meint, basiert vor allem auf dem zollfreien Einkauf. Ein Schnell-Tourismus mit Tagesgästen, die sich in knapp drei Stunden Aufenthalt mit billigem Schnaps und Zigaretten versorgen und nebenbei noch ein wenig Hochsee-Abenteuer genießen. Fuselfelsen wird Helgoland deshalb heute noch spöttisch genannt.

Doch ihre eigentlichen Trümpfe kann die Insel erst ausspielen, wenn der Schwarm der Schnapseinkäufer am späten Nachmittag wieder mit den Seebäderschiffen fortgezogen ist. Strand, Ruhe und Hochseewasser, das nichts von dem Grau der anderen Nordseeinseln hat, dafür eher karibikgrün und klar an die Badedüne schwappt. Die Aufspül-Idee von Weber sei daher "supergut", sagt Hotelier Rickmers. Mit dem Neuland, so hofft er, käme auch ein neues Image. "Wir brauchen jetzt nach 1952 einfach den zweiten Wiederaufbau", sagt er. Doch das müsse mit Augenmaß geschehen, sollte sich an der Fischerdorf-Tradition orientieren. "Das darf kein Klein Dubai hier werden." Er selbst wohnt nur noch zeitweise auf der Insel, seine Familie hat auch eine Wohnung in Hamburg. Nicht zuletzt damit die drei Teenager-Töchter eine vernünftige Ausbildung erhalten können.

Ein Problem, mit dem viele junge Helgoländer Familien kämpfen. "Irgendwann müssen die Kinder aufs Internat auf dem Festland, doch das ist teuer - und das kann man sich dann im Winter nicht mehr leisten, wenn es wenig Arbeit gibt", sagt Dagmar Siemens. Mit ihrem Baby wartet sie vor der Inselschule auf den älteren Sohn. "100 Kinder sind es dort nur noch, weil Familien wegziehen", sagt sie. Eine spektakuläre Wende wie mit dem Aufspülen könne daher nur gut sein für die Insel, meint auch sie.

Von der Grundschule führt der Weg durch die Gassen zum Insel-Fahrstuhl, der Oberland und Unterland verbindet. Ticket gibt's hier für Rauf- oder Runterfahren oder auch beides für 85 Cent. Ein Fahrstuhlwärter kassiert wie ein Busfahrer, rauf und runter ist sein Fahrgebiet. So rar müssen die Jobs auf der Insel sein, dass ein Fahrstuhl zu Geld gemacht wird. Unten im Unterland diskutieren Harry Singer und Uwe Ewerling. Die beiden Rentner tragen dunkelblaue Jacken und Schippermütze und sind sich auch sonst einig. Aufspülen sei Quatsch, sagen sie. Die mächtige Strömung der Nordsee würde dann umgelenkt und die Badedüne abtragen, fürchtet Singer. "Und das ist doch unser Herzstück", sagt er.

Auch Karl-Heinz Hottendorf denkt so. Er ist Kapitän eines der traditionellen Börteboote. Früher wurden sie vor allem zum Hummerfang genutzt, heute fangen die Helgoländer damit Touristen, die von den Seebäderschiffen zur Insel wollen. Für manche Inselbesucher ein Abenteuer, andere erinnerte das an die alte Strandräuber-Tradition auf Helgoland, wo der Spruch "Beinehmen ist kein Verlust", immer noch geläufig ist. Tatsache ist aber, dass gut 30 Familien auf der Insel von den Börtebooten leben. Hottendorf bringt damit Touristen auch im Winter auf die Düne. Ein kurzer Trip aufs offene Meer, auf dem die lange Dünung die schweren Holzboote sanft schaukeln lässt. Im Sommer sind es vor allem Badegäste, die die langen Strände schätzen. Jetzt im Winter sind es Familien und Hobbyfotografen. Ihr Ziel sind vor allem die gut 60 Jungrobben, die sich statt der Touristen am Strand rekeln.

Doch nicht alle Börte-Fischer denken so konservativ. Hans Detlev Haas ("Großes H, kleines aas") ist einer der letzten Hummerfischer der Insel. In seiner bunten Hummerbude schweißt und repariert er im Winter seine Ausrüstung. So könnte der 47-Jährige zufrieden alt werden. Doch er sorgt sich um seine Kinder, 16 und 13 Jahre alt. "Die brauchen hier eine Zukunft, deshalb muss etwas passieren", sagt er. Die Sache mit dem Streit um die Aufspülung sei eigentlich ganz einfach, glaubt er. Die Jungen seien eher dafür, die älteren eher dagegen. Die einen wollen Veränderung, die anderen nicht. Haas: "Das Problem ist nur, dass wir immer mehr Alte haben - wenn man so will, leben wir hier schon die Rentner-Republik vor." Er lacht, stülpt sich die Schutzmaske über und schweißt weiter.

Draußen beginnt es zu dämmern. Zeit zum Aufbruch, da die "Funny Girl" freitags am späten Nachmittag in Helgoland ablegt. Wieder sind es nur wenige Passagiere, Touristen in dicken Jacken, Handwerker und ein paar Wissenschaftler der biologischen Anstalt, mit 80 Mitarbeitern immerhin einer der größten Arbeitgeber der Insel. Die "Funny Girl" ist ihre Verbindung zum Rest der Republik. Und diesmal ist es eine ruhige Fahrt. In der Wintersonne wirkt das grüne Meer noch heller, und auch das "Hamburger Loch" präsentiert sich diesmal ausgesprochen höflich. Man kann jetzt sogar Erbsensuppe essen.