Jetzt droht 400 Roma in Billbrook wieder die Abschiebung in eine Heimat, in der sie bedroht werden und keine Zukunft haben.

Hamburg. Marija Pavlovic, in Hamburg geboren, ist 15 Jahre alt. Ein hübsches junges Mädchen mit großen dunklen Augen, dezent geschminkt, das gerne zur Schule geht, auch und vor allem hier, in der Fremde, wo es nur geduldet ist. Vor ein paar Monaten ist Marijas Familie wieder in Hamburg gestrandet. Nach sieben Jahren in Deutschland und weiteren acht Jahren in ihrer eigentlichen Heimat auf dem Balkan, in Serbien.

Marija wohnt jetzt am Billstieg, gemeinsam mit ihren Eltern, der Schwester und ihrem Bruder. "Wir leben in Hamburgs größtem Zigeunergetto", sagt sie. In ihrer Stimme schwingt eine gehörige Portion Sarkasmus mit. Die Unterkunft für Asylsuchende und Wohnungslose, die vierspurige Bundesstraße 5 in Hörweite, liegt an der Endhaltestelle der Buslinie 330 mitten in einer öden Industrielandschaft, umgeben von Lkw-Werkstätten, Garagenkomplexen, Schrotthändlern, Lagerhallen, Gerüstbaufirmen. Der Bus fährt einmal pro Stunde. Bis zum nächsten Geschäft oder Imbiss, zum Arzt oder zur Apotheke sind es 30 Gehminuten.

Die fünf Backsteinklötze, vier und sechs Stockwerke hoch, sind angeordnet wie eine Wagenburg und mächtig heruntergekommen. Zahllose Satellitenschüsseln an den Häuserwänden, ein paar Scheiben sind zerdeppert, Wäsche trocknet draußen auf den Balkonen, im Innenhof spielen zwei Dutzend Kinder Fangen oder Fußball. Einerseits ist der Billstieg als Zwischenlager für Flüchtlinge und Asylsuchende gedacht, andererseits empfinden es die meisten Bewohner wie eine neue Heimat. Von den etwa 400 Roma stammen die meisten aus Serbien und Mazedonien, einige wenige aus dem Kosovo. Aber ihre Chancen, dauerhaft in Hamburg bleiben zu dürfen, sind gesunken.

Die Pavlovics leben auf 50 Quadratmetern, in zwei Zimmern, die spartanisch eingerichtet sind, dazu kommen Küche und Bad. Marija, die Dolmetscherin für Romani/Deutsch werden will, "weil ich später auch anderen Mitgliedern meiner ethnischen Minderheit bei Behördengängen helfen möchte", hat wenigstens ein eigenes Bett, ihre Schwester Salijana, 17, blond gefärbtes Haar, die als Berufswunsch "Visagistin oder irgendwas in der gehobenen Gastronomie" angibt, auch. Ein eigenes Bett ist in den Wohnungen am Billstieg Luxus. Ihr zwölfjähriger Bruder Trajko muss auf dem Boden schlafen. "Aber das ist okay", sagt er, "Hauptsache, ein Dach über dem Kopf." Trajko hört sich sehr erwachsen an für sein Alter.

Seine Schwester Marija hockt im Schneidersitz auf dem Bett ihrer Eltern im Wohnzimmer neben einer hellen Schrankwand, die ihr Vater Muci als Umzugshelfer bei Bekannten abgestaubt hat. Eine Arbeitserlaubnis besitzt fast keiner der Roma aus dem Billstieg. Sonst stammt die Einrichtung der Pavlovics vom Sperrmüll oder von Flohmärkten. Im Fernseher läuft eine indische Soap mit Untertiteln. Junge Roma stehen auf "Bollywood". Im Bad schaltet die alte Waschmaschine in den Schleudergang. Draußen im Hausflur stehen die Schuhe. "Der Schmutz soll draußen bleiben", sagt Marija.

Die Roma, so will es die Politik, offenbar auch. Im vergangenen Sommer gab es in Frankreich massenhaft Abschiebungen von Roma, jetzt drohen sie auch in Deutschland. Selbst diejenigen, die bereits seit vielen Jahren in Hamburg geduldet werden, müssen mit ihrer Abschiebung rechnen. Vor wenigen Wochen erst lief der "Wintererlass" aus, der in der kalten Jahreszeit Roma vor der Rückführung in das Gebiet des ehemaligen Jugoslawien bewahrte. Am 29. März haben Serbiens Innenminister Ivica Dacic und Ole Schröder, Staatssekretär im deutschen Innenministerium, protokollarisch vereinbart, dass Deutschland diejenigen serbischen Asylbewerber sofort wieder abschieben kann, die von Serbien unverzüglich aufgenommen werden müssen.

Schröder sagte, dass es 2010 etwa 5000 Asylbewerber aus Serbien gegeben habe. Das sei inakzeptabel, da es in Serbien keine politische Verfolgung gebe. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) sagt dagegen in einem Positionspapier, in den Ländern Kosovo, Serbien und Montenegro könne für Roma kein Schutz vor Angriffen seitens der Bevölkerung und vor Misshandlungen und Schikanen durch die Polizei garantiert werden. Das Berliner Institut für Bevölkerung und Entwicklung assistiert 2010 in einer Untersuchung "Roma in Europa": "Roma leben oft in schlechten Verhältnissen. Sie sind wenig gebildet, auf dem Arbeitsmarkt kaum vermittelbar, werden diskriminiert und teilweise sogar verfolgt." Der Literaturnobelpreisträger Günter Grass protestierte 2010 in einem offenen Brief an den Bundesinnenminister gegen die Abschiebungen: "Da schaut ganz Europa auf Frankreich und empört sich über den Umgang mit den Vertriebenen und Armutsflüchtlingen der Roma aus Rumänien, und zur gleichen Zeit ist eine große Abschiebungsaktion großen Ausmaßes von Deutschland in den Kosovo im Gange."

Hilfsorganisationen wie Pro Asyl, Aktion Sühnezeichen oder "Kein Mensch ist illegal" initiierten eine bundesweite Kampagne mit dem Motto: "Alle bleiben". Sie schrieben viele Petitionen an politische Entscheider und Gremien.

In der Hansestadt wandte sich der Flüchtlingsrat gemeinsam mit bislang zwölf Romafamilien - unter ihnen auch die Pavlovics - an den Petitionsausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft. Zum Teil mit Erfolg: Für das Kosovo erwirkte die Härtefallkommission bereits einen einstweiligen Abschiebestopp. Die Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen monieren jedoch, dass die Lebenssituation der Roma in den anderen Ländern Ex-Jugoslawiens auch nicht besser sei als im Kosovo. Anfang April starteten von Düsseldorf trotzdem die ersten Chartermaschinen in Richtung Balkan. Die nächsten Flugzeuge sind bereits reserviert.

Besonders hilflos sind die, die gerade erst im vermeintlichen Paradies angekommen sind und kein Deutsch sprechen. So wie die Alilijis aus Mazedonien, denen man zwei Zimmer in der vierten Etage zugewiesen hat. Vater Boban, 30, und seine Frau Sajda, 24, hochschwanger mit dem fünften Kind, haben daheim alles Geld zusammengekratzt und davon den Schleuser bezahlt. In Mazedonien seien sie bedroht, beschimpft und wie Aussätzige behandelt worden, erzählt Boban, Marija übersetzt. Sie fanden keine Jobs, es gab keine Schule für ihre Kinder, sie verloren ihre Wohnung, hausten schließlich auf einer Müllhalde und aßen das, was andere weggeworfen hatten. Ihre Angst vor Abschiebung kann man förmlich spüren. "Alles ist für uns besser als Mazedonien", sagt Boban. Seine Frau lächelt schweigend und streicht sich über den prallen Babybauch.

"Hamburg ist nicht nur meine Geburtsstadt, sondern auch meine Heimat", sagt die junge Romni Marija. "Ich bete, dass die Ausländerbehörde uns nicht den Abflug nach Serbien machen lässt." Wo Zigeuner seit jeher schikaniert würden, sagt ihr Vater. Marija nickt: "In Serbien gibt es keine Schulen, keine Wohnungen, keine Krankenversicherung, keine Ausbildungsmöglichkeiten und Jobs für uns. Aber den Hooligans und Neonazis macht es Spaß, unsere Siedlungen zu überfallen und alles kaputt zu schlagen."

Sie versteht nicht, warum ihnen eine Zukunft in Deutschland verbaut wird. Sie will es nicht verstehen. "Wir alle gehen doch gern zur Schule, und wir haben immer mehr deutsche Freunde."

Ihr Vater, der an einem betagten PC gerade einem Nachbarn bei einem Behördenantrag hilft, dreht sich um und sagt entschlossen: "Wir sind Hamburger!" Durch die ständige Ungewissheit leide er inzwischen unter Bluthochdruck, vor drei Monaten habe er, gerade mal 46 Jahre alt, einen Herzinfarkt erlitten, klagt er. Die Hausapotheke quillt über von Pillen. Auch Marijas Mutter Nada, 43, sieht ihrer Zukunft pessimistisch entgegen. "Viele Nächte habe ich Albträume. Und oft kommen dann die Beklemmungen", sagt sie. Sie gehe deshalb zur Therapie, nehme Beruhigungspillen und Antidepressiva. Doch trotz allem kämpfe sie weiter für die Zukunft ihrer Familie. Für ein Bleiberecht in Hamburg.

"Ich bin tief beeindruckt vom sozialen Engagement der Familie Pavlovic, die sich am Billstieg auch für andere Romafamilien einsetzt", sagt Sozialpädagoge Jonas Trautmann, 28, vom freien Jugendhilfeträger Basis & Woge, der am Billstieg Beratungsangebote für Flüchtlingsfamilien offeriert. "Trajko und Marija gehen gerne zur Schule. Soweit ich weiß, hatten sie noch nicht eine Fehlstunde. Und auch Salijana wollte unbedingt weiterlernen. Wir konnten sie in ihrem Wunsch unterstützen. Jetzt besucht sie die Produktionsschule Billstedt/Horn und ist sehr glücklich dort."

Außerdem engagiert Salijana sich im von der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration unterstützten Wohnschiffprojekt Altona. "Sie übersetzt für uns vom Deutschen ins Serbokroatische und hält Kontakt zu den Menschen in der Romaunterkunft Billstieg", sagt Diplompsychologe und Vorstand des Flüchtlingsprojekts, Reimer Dohrn, 54: "Auf Salijana ist Verlass, sie ist umsichtig und kompetent. Sie verwaltet die Kasse, wenn wir in Kooperation mit dem Hamburger Sportbund Aktivitäten mit Romakindern unternehmen."

Ein Kassierer an der Tankstelle um die Ecke sagt: "Manchmal kommen ein paar Romakinder hier rein und kaufen Süßigkeiten. Klar, ich guck dann schon genauer hin, wenn die Roma im Laden sind. Das ist so drin in meinem Kopf: Roma und klauen. Ich habe auch schon mal welche erwischt, kommt schon vor, aber nicht so oft, wie man denkt." Ein Angestellter eines benachbarten Baubetriebs bittet manchmal Roma, bei schweren Arbeiten mit anzufassen. "Die packen gut mit an, und wenn ich ihnen ein paar Euro geben will, wollen sie die gar nicht haben. Aber natürlich sind sie froh über jeden Cent."

Alle paar Wochen müssen die Pavlovics momentan zur Ausländerbehörde an der Amsinckstraße. Dort rechnen sie immer mit dem Schlimmsten. "Die Termine an der Amsinckstraße schweben über uns wie dunkle Wolken", sagt der Vater. Die Mutter nickt, schluckt eine Tablette und spült mit Wasser nach.

Ihre Tochter Marija ist der Hauptgrund, warum die Familie im September vergangenen Jahres erneut aus Serbien geflüchtet ist. Zwei Albaner mit hellen Anzügen, Goldschmuck und teuren Uhren tauchten in Belgrads Romasiedlung auf. Sie wollten seine Jüngste "kaufen", sagt Muci Pavlovic: "Ich habe diesen Menschenhändlern ganz ruhig erklärt, dass meine Tochter erst 14 Jahre alt und unverkäuflich sei. Da boten sie mir gleich ein paar Scheine mehr."

Muci Pavlovic schüttelt empört den Kopf. "Dann drohten sie damit, meine beiden Mädchen zu entführen. Bevor die Mafia wiederkam, flüchteten wir nach Hamburg."

Wie vor 20 Jahren schon einmal, als Muci Pavlovic aus der serbischen Armee desertierte und mit seiner Frau unter falschem Namen nach Deutschland floh. Auf Desertion stand die Todesstrafe. Von 1992 bis 2003 lebte die Familie in Bergedorf. Die Pavlovics lernten Deutsch, integrierten sich leidlich. Der Vater wollte arbeiten und seine Familie ernähren, doch das durfte er nicht.

2003 dann die erste Abschiebung. Die Familie schlug sich in den Romasiedlungen von Belgrad und Lescovac durch. Vom Schulbesuch konnten die Kinder nur träumen. Gelegenheitsarbeiten auf Müllhalden, Feldern, Obstplantagen und Flohmärkten hielten die Familie über Wasser, der Nachwuchs musste mit anpacken. "Ich habe jedoch nie die Hoffnung aufgegeben, irgendwann wieder nach Hause zurückkehren zu dürfen", sagt Marija. "Jetzt bin ich endlich wieder hier, doch ich ertappe mich immer öfter dabei, dass ich in unserer Wohnung nur noch grübele, was als Nächstes passiert. Dauernd stelle ich mir nur eine einzige Frage: Darf ich bleiben?"

Ein Hoffnungsschimmer ist für viele Billstieg-Bewohner der neue SPD-Senat der Hansestadt. "Er könnte beim Bleiberecht für Roma ein menschliches Zeichen setzen", hofft Marija, die jedoch inzwischen begreifen lernen musste, dass geltendes Recht und menschliches Ermessen häufig nicht kompatibel sind. Wie jedes Bundesland muss auch Hamburg sich an die derzeitige Gesetzeslage halten.

Ralf Kunz, 49, Sprecher der Innenbehörde, dämpft die Hoffnungen vieler Romafamilien in Hamburg, nicht nur die der Pavlovics: "Rein rechtlich handelt es sich bei diesem Personenkreis um Ausreisepflichtige. Und im Fall der Nichtausreise droht eben die Abschiebung."

Mitte Mai, beim vorerst letzten Termin an der Amsinckstraße, entschied die Ausländerbehörde, die Pavlovics vorerst noch weitere drei Wochen in Hamburg zu dulden. Als nächster Anhörungstermin wurde Donnerstag, der 9. Juni, festgelegt.