Nach Meinung von Beobachtern ist so ausgelassen bisher nur gefeiert worden, wenn Italien den Weltmeistertitel im Fußball geholt hatte.

Sie schwenkten Fahnen und Transparente, fuhren hupend in Autokorsos durch Rom, tranken Sekt auf den Straßen. Mit einem stundenlangen nächtlichen Freudenfest haben Italiener den Rücktritt von Silvio Berlusconi, dem umstrittenen Premier, gefeiert. Nach Meinung von Beobachtern ist so ausgelassen bisher nur gefeiert worden, wenn Italien den Weltmeistertitel im Fußball geholt hatte.

Auch vor dem Präsidentenpalast Quirinale feierten Berlusconi-Gegner seinen Abgang. Hunderte Italiener auch aus anderen Teilen des Landes waren zusammengekommen, mobilisiert über SMS und Facebook, wie italienische Medien berichteten. Zur Musik der italienischen Nationalhymne und Georg Friedrich Händels "Halleluja" zelebrierten sie den "12. November - Tag der Befreiung".

Stunden vorher, als Berlusconi seinen Amtssitz verließ - nicht durch das Hauptportal, sondern durch die Autoeinfahrt eines Seiteneingangs -, hatten ihn "Geh nach Hause"-Sprechchöre begleitet. Er wollte sich nichts anmerken lassen.

Ein fröhlich winkender kleiner Mann hinter einer Bande von Bodyguards mit Pokergesichtern. Wahrscheinlich stellte sich Berlusconi wieder einmal auf die Zehenspitzen, um überhaupt über die Schultern seiner Leibwächter schauen zu können. Der Mann war verzweifelt. Doch er bleckte noch einmal sein Gebiss in die Kameras. Auf dem Weg zum Staatspräsidenten auf dem Quirinalshügel, wo er seinen Abschied einreichen wollte, schallte ihm "Hampelmann! Mafioso! Hau ab!" aus der Menge entgegen.

Das war der Abschied Silvio Berlusconis aus seinem Amt, nach seinem "längsten Tag", nach 17 Jahren. Kein Premierminister hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg länger halten können als er. In Italiens chaotisch-quirliger Demokratie hatte es unter den 34 Premiers vor Silvio Berlusconi auch schon Jahre mit gefühlten drei oder vier Regierungen hintereinander gegeben. In dieser Galerie von Regierungschefs ragte er sogar lange Zeit als Säule empor, zumindest als Säule der Dauer, jedenfalls in den Augen vieler Italiener, die den andauernden politischen Hickhack in Rom leid waren.

Ohne Hickhack ging es natürlich auch bei ihm nicht ab, der im politischen Ring zu tänzeln verstand wie Muhammad Ali, der seine Herausforderer immer auf mehr als Armeslänge von sich entfernt hielt. Inzwischen leben fast zwei Generationen in Italien, die nur noch ihn, den "Cavaliere del Lavoro", an der Macht erlebt haben, abgesehen von einem kurzen, glücklosen Intermezzo mit Romano Prodi 2006 bis 2008. Rund zwei Jahrzehnte lang hat Berlusconi Italien geprägt - und eben auch nicht geprägt, sondern weitgehend sich selbst überlassen, sodass heute im Rest Europas vom "italienischen Patienten" gesprochen wird. Und dann ging alles ganz schnell mit Berlusconis notwendigem Rücktritt. Am Ende hat er die nachrückende Generation und ihre elementaren Bedürfnisse nach Zukunft und Arbeit aus den Augen verloren. Wusste ihr nichts mehr anzubieten außer immer neuen Seifenopern in seinen Fernsehanstalten.

Es ist das Ende einer Ära. Nicht nur für Italien, auch für Europa, wo - wie wir jetzt sehen - plötzlich nicht mehr innenpolitische Gegner und der starke Druck der Opposition Regierungschefs aus dem Amt treiben können, sondern Rating-Agenturen in Paris und London, vor allem aber die Souveränität unerbittlicher marktwirtschaftlicher Parameter und der Druck undurchsichtiger Finanzmärkte, deren Strukturen kaum noch ein Wähler versteht. Es ist ein Prozess der vereinheitlichenden Europäisierung, an dessen Ende wir - wenn es noch glücklich ausgeht - das alte Europa der tschechischen Schwejks, der deutschen Zipfel- und französischen Baskenmützen, der spanischen Sancho Pansas und italienischen Harlekins vielleicht kaum noch wiedererkennen. Eben dieses alte Italien aber hat Silvio Berlusconi wie kaum ein zweiter Politiker vor ihm verkörpert. Denn trotz seines Instinktes für die Nutzung völlig neuer Datenautobahnen der modernen Medien war er doch ganz und gar ein Mann des Italiens von gestern und vorgestern, in dem auch das Kaspertheater mit seinem burlesken Personal erfunden wurde, das jedes Kind versteht. Selbst seine Skandale wusste er in diesem Geist zu inszenieren.

Natürlich konnte er seine Position nur verteidigen und ausbauen als kühler Machtmensch, von dem selbst Niccolò Machiavelli noch einiges hätte lernen können. Ins Zentrum der Macht aber ist er vor allem gekommen, weil er auf genialische Weise Harlekin und Zampano in sich zu vereinigen wusste. Das war das Geheimnis seines Erfolgs plus seine märchenhaften Fähigkeit, den Kopf aus jeder Schlinge ziehen zu können - ein Entfesselungskünstler im Reich der politischen Intrigen.

Am Nachmittag hatte eine Mehrheit von 380 (von 630) Abgeordneten für das Reformpaket gestimmt, das er selbst noch in der gesamteuropäischen Schuldenkrise auf wirtschaftlichen, vor allem aber auf Brüsseler Druck in das Parlament eingebracht hatte. Damit war die letzte Bedingung erfüllt, die er am Donnerstag für seinen Rücktritt genannt hatte. Es war der letzte Akt der Regierung Berlusconi, der vor dreieinhalb Jahren noch einmal angetreten war, um die nächsten fünf Jahre Italiens zu gestalten. Damit war die Regierung anderthalb Jahre vor dem Auslaufen der Legislaturperiode am Ende.

Plötzlich ist der Mann an der Spitze dieser Regierung damit selbst Geschichte geworden - auch wenn er keine 24 Stunden nach seinem Rücktritt schon wieder seine Rückkehr in die Politik ankündigte. In einem Brief schrieb er an die kleine Partei Destra Nazionale: "Ich wünsche mir, gemeinsam mit Euch den Weg an die Regierung wieder aufzunehmen." Solange Berlusconi lebt, ist bei seiner Vitalität jeder Nachruf verfrüht.

Aber ist das schon alles? Einige Richter werden noch einige Fragen an ihn stellen wollen. Das Heer seiner Anwälte hat ihn bisher davor bewahrt, auch nur ein einziges Mal eine Strafe anzutreten für einen Fehltritt aus der vielfältigen Palette jener Vergehen, die ihm schon vorgeworfen wurden. Diese Anwälte wird sich der Milliardär auch nach seinem Rücktritt leisten können. Und dass der Mann, der am 29. September 75 Jahre alt geworden ist, in Italien jemals hinter Gitter gehen wird, sollte keiner so schnell erwarten. Allen Verteufelungen zum Trotz ist Silvio Berlusconi kein Milosevic. Alle Schmähungen, die ihm nun nachgeworfen werden wie einem alten Schauspieler in der Arena, der seine Rolle nicht mehr beherrscht, können nichts an der historischen Tatsache ändern, dass es Silvio Berlusconi fast zwei Jahrzehnte lang gelungen war, eine Mehrheit der italienischen Wählerstimmen zu vereinigen - auf sich und seine Versprechen und das von ihm geschmiedete Regierungslager. Das ging nur, weil sich auch ein Großteil der Italienerinnen und Italiener in ihm und seinen Kapriolen wiedererkannte und gespiegelt sah.

Auf die Kunst des Versprechens - auch der leeren Versprechen - verstand er sich besser als jeder Heiratsschwindler. Einig war er sich mit fast allen Italienern auch in ihrer skeptischen Ablehnung des Staates. "In Italien fordert man nicht ein neues, gerechteres Steuersystem", schrieb Berlusconis Kritiker Beppe Severgnini einmal, "man zieht es vor, das bestehende zu umgehen." In Silvio Berlusconi war diese Erkenntnis Politiker geworden. Seine Nachfolger werden Italien für die Moderne quasi umerziehen müssen - falls das je möglich sein wird.