Emotionaler Auftritt des ukrainischen Präsidenten in Davos. Angeblich hat Moskau 9000 Soldaten und 500 Panzer ins Nachbarland geschickt

Davos/Moskau. Ungeachtet neuer internationaler Friedensbemühungen wächst in der Ukraine die Kriegsgefahr. Die Regierung in Kiew warf Russland am Mittwoch vor, seine militärische Präsenz in den Separatistengebieten im Osten massiv auszuweiten, und kündigte an, die eigenen Streitkräfte drastisch aufzurüsten. In einer sehr emotionalen Rede hat der ukrainische Präsident Petro Poroschenko in Davos die russischen Angriffe auf sein Land mit den Attentaten von islamistischen Terroristen gleichgesetzt und die Solidarität Europas eingefordert. „Wir kämpfen für die europäische Einheit und für die europäischen Werte“, sagte Poroschenko am ersten Tag des Jahrestreffens des Weltwirtschaftsforums.

Zuvor hatte sich der ukrainische Präsident ein gelb gestrichenes Stück Metall auf die Bühne reichen lassen, das an mehreren Stellen durchlöchert war. Das sei ein Teil eines Passagierbusses, der am 13. Januar an einem ukrainischen Checkpoint beim Ort Wolnowacha in der Ostukraine unter Beschuss geriet. 13 Menschen kamen dabei ums Leben. „Für mich ist es ein Symbol des Terrorangriffs auf mein Land, auf meine Leute“, sagte der Staatschef. Der Bus sei von einer russischen Rakete getroffen worden. Das sei die „gleiche Art von Terrorakt“ wie der Abschuss der MH 17 oder der Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ in Paris. „Das demonstriert, dass Terror nicht ein ukrainisches Problem, sondern ein globales Problem ist.“

Poroschenko zeichnete auf der Davoser Bühne in einer frei auf Englisch gehaltenen Rede ein sehr optimistisches Bild von einer Ukraine, die proeuropäisch, reformentschlossen und friedenswillig sei. „Wir sind stärker und demokratischer als jemals zuvor“, sagte Poroschenko. Die Ukraine sei ein komplett anderes Land geworden, so geeint wie nie zuvor. 78 Prozent der Menschen seien für Europa, mehr als 50 Prozent für einen Beitritt in die Nato. „Die Ukraine ist komplett europäisch“, sagte Poroschenko. „Wir sind eine Nation des Friedens, ich bin der Präsident des Friedens.“ Russland hingegen sei der Aggressor: Mehr als 9000 Soldaten und 500 Panzer seien inzwischen in sein Land eingedrungen. „Wenn das keine Aggression ist, was ist dann Aggression?“

Der russische Außenminister Sergej Lawrow wies den Vorwurf zurück, Truppen seines Landes hätten ukrainische Einheiten angegriffen, und forderte eine sofortige Waffenruhe. Für den Abend lud Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier seine Kollegen aus Russland, der Ukraine und Frankreich zu einem Krisentreffen nach Berlin. Bei der Zusammenkunft könne ein Fundament für einen späteren Vierer-Gipfel in Astana gelegt werden, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Tatsächlich verlautete aus der deutschen Delegation zwei Stunden nach Beginn der Gespräche, dass eine gemeinsame Erklärung vereinbart wurde. Einzelheiten wurden bis zum späten Abend nicht genannt.

Der ukrainische Regierungschef Arseni Jazenjuk will unterdessen die Armee im Kampf gegen prorussische Separatisten um 68.000 Soldaten aufstocken. „Wir schlagen vor, die Gesamtzahl der Streitkräfte auf 250.000 Mann festzusetzen“, sagte der prowestliche Politiker in Kiew. Die Regierung werde bald einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen. Kritik, wonach dem vor dem Staatsbankrott stehenden Land die Mittel für eine solche Aufstockung fehlen würden, wies Jazenjuk zurück. Im Staatshaushalt seien 90 Milliarden Griwna (rund 4,8 Milliarden Euro) für Rüstungsausgaben vorgesehen, sagte er. Die Ukraine hatte erst am Dienstag mit der Bewaffnung von etwa 100.000 Reservisten begonnen.

Die prorussischen Rebellen belegten Stellungen der ukrainischen Armee mit schwerem Artilleriefeuer und versuchten, weitere Gebiete einzunehmen, teilte ein ukrainischer Militärsprecher mit. In den vergangenen 24 Stunden sei ein Soldat getötet und 40 weitere verletzt worden. Die Gefechte zwischen der Armee und prorussischen Separatisten hatten bereits in den vergangenen Tagen deutlich zugenommen.

In Diplomatenkreisen in Moskau hieß es dagegen, die ukrainische Regierung habe ihrerseits die Angriffe auf die Separatisten verstärkt, um eine Lockerung der westlichen Sanktionen zu verhindern. Die Wirtschaftssanktionen, die fallenden Ölpreise und der Einbruch des Rubelkurses haben bereits deutliche Spuren in der russischen Konjunktur hinterlassen.

Anfang September hatten sich Vertreter der ukrainischen Regierung und der Rebellen in der weißrussischen Hauptstadt auf eine Waffenruhe verständigt, während der die Weichen für eine friedliche Lösung des seit Monaten anhaltenden Konflikts gestellt werden sollen. Vorgesehen ist unter anderem der Abzug schwerer Waffen aus den Kampfgebieten. Zu den Vereinbarungen zählt mehr Autonomie für die Ostukraine, aber auch die Wahrung der territorialen Einheit des gesamten Landes.

Russland warf derweil Washington im Zusammenhang mit der Rede von US-Präsident Barack Obama zur Lage der Nation Großmachtstreben vor. Die USA wollten die Welt beherrschen, sagte Lawrow. Die US-Philosophie basiere auf einem Grundsatz, und der laute: „Wir sind die Nummer eins“. Kremlsprecher Dmitri Peskow hat dem Westen in ungewöhnlicher Schärfe einen Versuch des Sturzes von Präsident Wladimir Putin vorgeworfen. „Im Westen wird versucht, Putin als eine Seite des Konflikts hinzustellen, ihn in der internationalen Politik zu isolieren, Russland wegen eigener wirtschaftlicher Interessen zu erwürgen und einen Sturz Putins herbeizuführen“, sagte Peskow der Zeitung „Argumenty i Fakty“. Zugleich machte er deutlich, dass sich Russland nicht brechen lasse.